Gesprächsbegleiter: Ulrich Deuter und Andreas Wilink
// Roberto Ciulli, 1934 in Mailand geboren, promoviert mit einer Arbeit über Hegel, ist seit 1965 in Deutschland als Theaterregisseur beschäftigt, u.a. in Göttingen, Köln, Berlin und Düsseldorf, bevor er 1980, zusammen mit Helmut Schäfer und Gralf-Edzard Habben, das Theater an der Ruhr in Mülheim gründet. Ein einmaliges Experiment, halb Stadttheater mit fester Adresse, halb Wanderbühne, die die Provinz und die ganze Welt bereist und multikulturelle Verbindungen eingeht. Am 1. April wird Ciulli 75 Jahre alt. Seine wohl wichtigste künstlerische und lebensgeschichtliche Erfahrung wurde seine Zusammenarbeit mit der aus Belgrad stammenden Schauspielerin Gordana Kosanović, die nur sechs Jahre bis zu deren frühem Tod 1986 währte. Ein Preis in ihrem Namen, dotiert mit 7.500 Euro, wird seit 1987 im Zwei-Jahres-Rhythmus an Schauspieler verliehen, bisher u. a. an Ulrich Wildgruber, Kirsten Dene und Angela Winkler. Am 22. März hat ihn Herbert Fritsch erhalten, auch er ein Ausnahme- und Nervenschauspieler. 1951 in Augsburg geboren, kam er nach Stationen in Heidelberg, Stuttgart, München und Düsseldorf 1993 zum Ensemble von Frank Castorfs Berliner Volksbühne und wurde Protagonist vieler Inszenierungen. Fritsch arbeitet zudem als Medienkünstler, dreht seit den 80er Jahren Filme (frühe Werke und sein Langzeit-»Hamlet X«-Projekt werden Anfang Mai auf den Oberhausener Kurzfilmtagen gezeigt) und führt Regie am Theater. //
K.WEST: Sie machen, jeder auf seine Weise, politisches Theater. Gibt es zwischen Ihnen darin Gemeinsamkeiten? Godard hat einmal gesagt, er mache keine politischen Filme, sondern Film politisch. Wäre das ein Modell für Sie?
CIULLI: In den 1970er Jahren sollte Theater subventionierte Opposition sein. Heute – spätestens nach dem Mauerfall – ist das, wogegen man opponieren kann, undefinierbar geworden, weswegen es wenig Sinn hat, in den alten Kategorien weiter zu machen. Deshalb sollte man sich auf die grundsätzliche Behauptung besinnen, dass Theater per se politisch ist. In dem Moment, wo ein Schauspieler die Bühne betritt, kann es politisch sein. Ob Brecht, ob Boulevard, es kommt darauf an, wie man es denkt.
FRITSCH: Stimmt, der Begriff des Politischen hat sich fundamental gewandelt. Man weiß nicht mehr, was man kritisieren soll, worum es eigentlich geht. Es gibt keine Politik mehr, nur noch ein großes Spiel. Warum gibt es jetzt in der Krise keine Aufstände? Weil alle in dieses große Spiel verwickelt sind. Und alle betrogen sind. Bernard Madoff: Mir ist dieser Milliarden-Betrüger sympathischer als die Betrogenen, die sich über ihn aufregen. Sie hatten schon eine Menge Geld verdient und wollten noch mal elf Prozent Rendite kriegen. Deshalb funktioniert auch der Klassenkampf in unserer Gesellschaft nicht mehr. Theater ist nicht mehr politisch, sondern ein Politikum. Es wird verwendet als Repräsentation einer Gemeinde. Um was es wirklich geht, ist das Spiel auf der Bühne, wo man was riskiert – das ist ein politischer Vorgang. Es war schön, das bei Gordana Kosanović zu lesen.
CIULLI: Ihren Blick auf die Gier in der Gesellschaft, auf den Egoismus der Menschen, die sich ihrer Aufgabe in der Gesellschaft entziehen finde ich interessant. Eine mutige Äußerung.
FRITSCH: Ein ganz anderes Beispiel – sehr heikel, was ich jetzt sage – ist der Amoklauf von Winnenden. Das ist doch eine Raskolnikow-Geschichte. Ich stelle mir vor, wie es bei dem losgeht, wie er es nicht mehr halten kann, wie es immer schlimmer wird. Unsere Gesellschaft ist doch auf Brutalität aufgebaut, wen wundert es, dass eine Jugend heranwächst, die genau in diese Brutalität hineinpasst.
CIULLI: Ich habe 2003 ein Theaterprojekt in einer forensischen Klinik gemacht, »Wie hast du geschlafen?«, mit weggesperrten Gewalttätern. Da habe ich erfahren, wie hinter jedem Mörder oder Vergewaltiger das Kind steckt, das selbst vergewaltigt wurde, das keine Chance bekommen hat. Wie mit denen umgegangen wurde und wird, ist Unrecht.
K.WEST: Spielt es für Sie beide in der Arbeit auf dem Theater eine Rolle, eine Meinung zu vertreten, eine Position zu setzen, die man politisch nennen könnte?
FRITSCH: Meinungen kann man am Zeitungsstand kaufen. Es geht eher um Interpretation. Das Spiel ist für mich entscheidend. Ich kann nicht vorweg sagen, wie es ausgeht. Interessant wird es, wenn etwas mit mir passiert, worauf ich keinen Einfluss habe. Der Schauspieler geht hin und behauptet etwas. Und er behauptet es so massiv, dass es Wirklichkeit wird.
CIULLI: Ich hätte andere Worte dafür – aber Fritsch hat’s getroffen. Alles entsteht spontan. Aber um diese Spontaneität zu haben, muss ich befreit von Meinungen sein, sogar in der Probe. Denn die Probe gibt es eigentlich nicht. Man spielt immer. Das ist das Politische am Schauspielen. Aber es gibt auch Schauspieler, die werden, umgekehrt, genau in dem Moment, da sie auf die Bühne gehen, unpolitisch. Weil sie etwa eine Meinung vertreten. Als Regisseur bist du in einer anderen Position. Du musst eine Situation so vorbereiten, dass etwas entstehen kann, dass ein paar unterschiedliche Menschen und ein Material sich frei entwickeln können. Ich bin nicht der Schöpfer, es geschieht.
FRITSCH: Dass ich jetzt Regie führe, hat auch den Grund, weil ich mir in Ensembles als Schauspieler nie Freunde gemacht habe. Seit ich Regisseur bin, komme ich mit den Leuten blendend aus.
CIULLI: Die machen eben, was Sie wollen!
FRITSCH: Nein, nein! – (Lacht.) Auch, ja. Auch als Regisseur spiele ich bei Proben etwas vor. Das habe ich als Schauspieler auch immer gemacht – und gedacht, wenn ich auf der Bühne verrückt werde, machen die anderen auch etwas Verrücktes. Aber die sagten eher: »Der schon wieder! Was soll ich dann noch machen.« Es gab immer Kollisionen. Zumal ich vom Regisseur eingesetzt wurde, um Dissens herzustellen, Funken zu schlagen.
K.WEST: Wie hält es denn Roberto Ciulli mit dem Vormachen?
CIULLI: Früher gehörte ich zu den Regisseuren, die mit einem klaren Konzept ankamen. Aber, um nochmals auf den Kosanović-Preis zu kommen, der gestiftet wurde, weil von Schauspielern so wenig bleibt: Ich verdanke Gordana sehr viel Grundsätzliches, ich habe durch sie viel verstanden über das Zentrum des Theaters. Weil sie in jedem Moment, nicht nur auf der Bühne, auch in den Proben, immer so gelebt hat, als wenn sie morgen sterben würde. Durch sie hat sich meine Art der Kommunikation mit Schauspielern geändert. Ich bin ein sehr genauer Beobachter geworden, aufmerksamer für das, was geschieht: eine präzise Aufgabe geben und dann beobachten und entstehen lassen. Das hat mich auch dazu gebracht, mit 65 Jahren selbst zu spielen, im »Kleinen Prinzen«.
K.WEST: Sie beide benennen das Spielen als die zentrale Realität des Theaters. Dieser Spieltrieb kommt aber vielleicht aus je unterschiedlichen Quellen?
FRITSCH: Ich erzähle mal ein Beispiel: Der Regisseur David Mouchtar-Samorai war sehr streng. Das hat mich verrückt gemacht. Ich dachte, diesen Zwang muss ich zerbrechen. Ich habe mir jeden Tag aufgeschrieben, was ich auf der nächsten Probe mache, um ihn zu ärgern. Das habe ich geschafft, ich habe ihn zur Weißglut gebracht. Er hat dann versucht, einen Punkt zu finden, an dem er mich quälen kann. Hat z. B. behauptet, der berühmte englische Schauspieler Charles Kean habe sich vor dem Spiel immer ausgepeitscht. Darauf habe ich mir Peitschen besorgen lassen und mich immer dann, wenn die anderen spielten, an die Seite gestellt und mich gegeißelt. Mouchtar hat mir zugerufen: »Mussn sein verruckt! Mussn sein verruckt!«. Und ich: Du willst, dass ich verrückt werde? Okay, da habe ich alles gegeben, bis Blut gekommen ist. Ich wollte die Autorität, die er darstellte, brechen, die Vater-Autorität.
CIULLI: Bei mir hat es eine andere Genese. Für mich ist es der Clown, schon von sehr früh an. Der Clown hat eine rote Nase, eine blutige, verletzte Nase, die aus der Kindheit stammt und die er mit sich trägt. Meine Mutter war sehr autoritär, und in mir ist ein riesiger Widerstand entstanden. Was erklären könnte, warum ich den Clown gespielt habe im »Kleinen Prinzen«. Was Fritsch und mich verbindet, ist der Truffaldino. Der Ursprung des Schauspielens, wie wir es verstehen, ist die Provokation gegen die Gesellschaft. Das ist das Politische. Heute bemerke ich eine Tendenz am Theater, mit denselben Mitteln, die in den 70er Jahren entstanden sind und sich damals gegen das Publikum richteten, ein Einvernehmen mit dem Publikum herzustellen. Das ist tragisch. Es gibt keine Reibung mehr zwischen Bühne und Publikum.
FRITSCH: Ich erinnere mich noch genau an die Anfangszeit an Castorfs Volksbühne, da haben Politiker im Berliner Senat gesagt, das sind nur Nutten und Irre, die sind nicht subventionswürdig. Ich habe erlebt, dass ich herauskomme aus der Volksbühne, und draußen steht eine Frau und spuckt mir ins Gesicht.
CIULLI: Ist mir auch passiert, in Iserlohn. Beim »Sommernachtstraum« in der Pause. Es kommt eine Frau und fragt: Sie sind der Regisseur? Ich möchte Ihnen ins Gesicht spucken. Darauf habe ich geantwortet: Bitte! Denn ich war gereizt durch die vielen Auseinandersetzungen jener Jahre und dachte mir: Endlich! Endlich kann ich einen Zuschauer schlagen. Wenn sie mich anspuckt, gebe ich ihr eine Ohrfeige. Das hat sie in meinem Blick gesehen und sich nicht mehr getraut. Ich habe sie dann gefragt, warum sie mich anspucken wollte. Und sie hat geantwortet: Sie sind ein Schwein. Wie kommen Sie auf die Idee, einen Menschen in einen Esel zu verwandeln?
K.WEST: Der anarchische Clown, der Arlecchino, das sind also Grundfiguren? Theater aus Rebellion und Notwehr?
FRITSCH: Ich habe mich immer als einen bösartigen Spaßmacher verstanden, als Teufelsdarsteller, den man nach wie vor am liebsten jenseits des Friedhofs verscharren würde. Meine Großmutter hat gesagt, wenn ich als kleiner Junge meine Wutanfälle kriegte: »Den Buam hat der Teifi!« Das hat mir zu denken gegeben, wahrscheinlich habe ich einen Teufel in mir.
CIULLI: Ich war ein rothaariges Kind, so rot, wie man sich das nicht vorstellen kann, in einer total schwarzen Sippe. Deswegen war ich auch der Teufel.
FRITSCH: Um es mal klar zu sagen: Theater ist für mich keine Schule. Kein Krankenhaus. Und keine Kirche.
CIULLI: Eins noch vergessen: Das Theater ist kein Bordell!
FRITSCH: Nein, das sage ich nicht. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.
K.WEST: Es hatte gerade so einen sakralen Ton bekommen!
FRITSCH: Ja, das ist der Teufel, der aus mir spricht. (Schreit.) Ich arbeite nicht! Ich hasse Arbeit. Ich finde Arbeit grausam. Deshalb will ich spielen, nicht arbeiten. Ich bin kein anständiger Mensch. Ich bin ein Betrüger, ein Lügner, ich bin ein Kleinkrimineller, der den Weg auf die Bühne gefunden hat. Das ist meine Lebenslust.
CIULLI: Ich denke immer an Gordana. Fritsch ist sehr nah an ihrer Auffassung.
FRITSCH: Ich hasse einfach dieses Pfäffische, dieses Scheinreligiöse. Komischerweise entwickelt sich das Theater momentan in so eine pfäffische Richtung.
CIULLI: Betrüger – ja! Aber warum gibt es Theater? Wir brauchen das Theater in einer Gesellschaft, die, um zu funktionieren, sehr viele Möglichkeiten in uns tötet. Der Schauspieler zeigt uns, was wir nicht sein können. Was wir in uns drin haben. Wir möchten gern eine Bank überfallen, jemanden töten. Wie viele Male habe ich meine Mutter umgebracht oder mir ihr geschlafen in meiner Vorstellung… Als ich in der Forensik war, habe ich den Patienten gesagt: »Ich habe dieselbe Phantasie wie du. Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass ich bezahlt werde, um diese Phantasie nicht auszuleben in der Realität, aber sie auf der Bühne darzustellen.« Daran müssen wir denken. Darum sind Schauspieler wichtig.
K.WEST: Als Substitut für das Opfer.
CIULLI: Damit weniger auf die dumme Idee kommen, ihre Phantasien real umzusetzen. – Trinken Sie gerne einen Wein? Ich hätte einen guten, für die Gelegenheit.