// Dortmund liegt in Sichtweite von Berlin, Cannes, Venedig und Toronto. Zumindest, was das Kino betrifft. Die Auswahl des Frauenfilmfestivals zeichnet sich – wie schon in den Vorjahren – durch sehr hohes Niveau aus. Dem Publikum, das vom 21. bis 26. April den Spielfilmwettbewerb des IFF besucht, kann es dabei gleichgültig sein, ob die acht Beiträge bereits von anderen Augen gesehen wurden. Dass der doppelte Berlinale-Gewinner »Alle anderen« von Maren Ade zwei Monate vor seinem Start die deutschenFarben in Dortmund vertritt, ist ein schöner Zusatzgewinn.
Ferienstimmung. Sommer. Sonne. Süden. Chris und Gitti verbringen den Urlaub in der Villa seiner Eltern auf Sardinien. Bei ihrer Ankunft reist Chris’ Schwester gerade mit ihren Kindern ab, die man einen Moment lang für die von Chris und Gitti halten konnte. Aber die beiden sind allein mit sich. Solipsistisch. Monadisch. Das wirft Fragen auf wie diese: »Findest Du mich eigentlich männlich?« oder »Hasst Du mich manchmal?« Wie steht’s um Erfolg, Attraktivität, Versagen, Lebensziele? Chris (Lars Eidinger) ist Architekt, kompromisslos, geschmackssicher und eingerichtet in splendid isolation. Gitti (Birgit Minichmayr) arbeitet für ein Musik-Label und wäre für Chris gern »anders«, weniger konventionell. Zwei, für die das schlimmste Schimpfwort vermutlich »spießig« wäre. Das Aufeinander-Bezogen-Sein, das einander Ausforschen ist ihr Normal-, aber eben auch Ausnahmezustand, der im Wechsel Ungeduld und Unzufriedenheit, Gleichgültigkeit und Langeweile, Begehren und Aversion auslöst. Man ist albern, aggressiv, zärtlich, feindselig – und unsicher. Hier und da ein kleiner Verrat am Partner, der bis zur Verachtung führen kann, offene oder subtilere Demütigungen, befördert durch das Treffen mit einem Kollegen von Chris und dessen schwangerer Frau. Bei einer Bergtour lässt der bewanderte Chris Gitti hinter sich und sie nach der Rückkehr in der Nacht allein im Haus. »Alle anderen« hat etwas von einer Mutprobe, die Mann und Frau jeweils für sich und in Relation zum anderen ablegen. Die Psychologie der Situationen ist genau erfasst. Dennoch bleibt eine gewisse Enttäuschung, dass die intime, konzentrierte Paar-Studie so wenig über sich hinausreicht, dass die Vorbilder Antonioni, Bergman, Cassavetes, Fassbinder in ihrem existenziellen Format unerreicht sind.
Noch einmal: Sommerferien. Drei Geschwister kommen heim in ein schönes Zuhause. Ein paar Schritte hinterm Garten liegen Wald und Fluss. Paradiesische Zustände in den quälend bunten Farben der sechziger Jahre, begleitet von Songs jener Jahre. Man wartet lange, dass etwas geschieht, die Stimmung kippt, Harmonie bricht, das happy together endet. Kleine Zeichen deuten darauf hin. Ein Vogel fliegt gegen die Küchenscheibe. Eine Geste, mit der sich der Vater und Ehemann (Laurent Lucas) von einem Freund verabschiedet, beobachtet von seiner Tochter Elise (Marianne Fortier). Sie wird kurz darauf ein Telefonat des Vaters belauschen und den Hörer an die Mutter weiterreichen. Das Unglück ist da, ohne dass wir Genaueres erführen. Aber die Verzweiflungsschreie der betrogenen Ehefrau dringen durch die Räume und lassen den Jüngsten, Benoit (Hugo St-Onge-Paquin), unters Bett flüchten und sich die Ohren verstopfen. Die Mutter, eine politische Journalistin (Céline Bonnier), wechselt auf der Stelle als Korrespondentin nach London und verlässt die fassungslose Familie. »Wenn ich nicht gehe, sterbe ich.« Von nun an heißt es bei den Kindern: »Maman est chez le coiffeur«, wenn Leute nach ihr fragen.
So heißt auch Léa Pools Film (Kanada), ein Meisterwerk von Klugheit und Melancholie, Charme und Witz, das Bewusstseinsschichten der kindlichen Seele und der dort abgelegten Phantasien, Wünsche und Ängste ergründet. Einen besseren Eröffnungsfilm als diese Vertreibung aus dem Paradies kann sich kein Festival wünschen. Der Trennungsschmerz und die Versuche der Bewältigung zeigen sich in sensibel beobachteten Handlungen, Situationen und Spannungen: die Ambivalenz, mit der Coco (Elie Dupuis) und Elise die abwesende Mutter verteidigen und sich ihren Rückmeldungen verweigern; das Greifen nach emotionalem Halt; Benoits Verstörung, die in die (Selbst-)Zerstörung führt, wenn er sich den Kopf blutig stößt und den Fernseher demoliert, als seine Mutter auf dem Bildschirm einen Bericht vorträgt. Der Kummer der Kindheit wohnt auch in den Nachbarhäusern, von Léa Pool mit kurzen prägnanten Seitenblicken gestreift.
Die Empathie teilt sie mit Sylvie Verheyde, deren Film »Stella« die Uhr ein Jahrzehnt in die 70er weiter dreht. Die elfjährige Stella (Léora Barbara) kommt in eine neue Schule, die von Kindern wohlhabender Familien besucht wird. Sie selbst lebt in der Pariser Banlieu, die Eltern führen ein billiges Hotel und Café, in dem es derb und laut zugeht, gezockt, geschwoft und gerauft wird. Fürs Leben lernt Stella hier manches, für die Schule wenig. Sie hat zunächst Schwierigkeiten im Unterricht und findet keinen Kontakt. Im Fußball, beim Fernsehen und an der Jukebox kennt sie sich aus, bei Grammatik und Mathe hapert es. Balzac und Duras bringt ihr erst Gladys näher, ebenfalls neu in der Klasse, ebenfalls anders – eine argentinische Jüdin mit Großfamilie. Stella muss allein mit zu vielem fertig werden, Vater und Mutter sind kaum ansprechbar und haben Probleme mit sich. Dass Stella eine Klassenkameradin attackiert, plötzlich mit einem Gewehr auf einen Lover ihrer Mutter zielt, offenbart noch keinen aggressiven oder gar deformierten Charakter. Vielmehr scheinen Unbeschwert- und Unglücklich-Sein in diesem Alter kaum eine Trennlinie zu kennen.
Übergangssituationen, Schritte ins Vorläufige, Einrichtung im Behelfsmäßigen – das findet sich in Tschechien (»Nachteulen«) ebenso wie in China (»Knitting«). Michaela Pavlátová und Yin Lichuan nähern sich behutsam jungen Frauen. Ofka driftet durch Prager Tage und Nächte, verliert den Freund an die beste Freundin, weiß nicht recht, ob sie sich als Künstlerin fühlen kann, weist die Werbungen ihres Jugendfreundes Ubr ab, der unverbrüchlich treu an ihr hängt, und gibt ihnen nach. Li Daping muss ihren halbkriminellen Freund mit einer Älteren, Mondäneren, Dreisteren teilen; sie wird schwanger und bringt das Kind zur Welt, das sie nicht mit dem Vater, sondern mit der Konkurrentin aufziehen wird. Solange es gut geht.
Es wäre ein Roadmovie, wenn sich die Dinge für »Wendy und Lucy« nicht anders entwickelt hätten. So ist Kelly Reichardts gleichnamiger Film eher das Stillleben eines Roadmovie und verfügt den Gegensatz von Dauer des Moments und Bewegung. Auf ihrem Trip nach Alaska passiert Wendy einen Ort in Oregon. Ihr Auto hat eine Panne, sie versucht, in einem Supermarkt eine Dose Hundefutter für Lucy zu stehlen, weil sie ihre Reserve von 500 Dollar nicht anbrechen will, wird erwischt und zur Polizei gebracht. Bei ihrer Rückkehr ist der Hund weg. Ein alter Parkwächter hilft Wendy bei der Suche. Mehr geschieht nicht in den 80 Minuten. Die Geschichte wirkt nicht allein durch die Kraft und Natürlichkeit der Hauptdarstellerin Michelle Williams, die Le Monde »the very model of sobriety« nannte. Drehbuch, Regie und Darstellung gelingen gemeinsam eine sozial authentische, beharrlich leise, ernsthafte Zustandsbeschreibung. Einmal geht Wendy entlang der betonierten Zwinger eines Tierheims – man spürt, dass sie in jedem der eingesperrten Hunde die leidende Kreatur und einen Artgenossen erkennt. Verlorenheit, Armut, Anmut und Würde: Ihre Innenansichten weiß Reichardt mit größter Ökonomie und ohne jede vordergründige Behauptung zu inszenieren. Ihr Film verdient »un certain regard«, wie die Festival-Reihe in Cannes heißt, auf der »Wendy and Lucy« 2008 bereits erfolgreich gelaufen ist.
Auch Claire Simons französischer »Les Bureaux de Dieu« gibt sich zurückhaltend; ernüchternd wie ein wissenschaftliches Protokoll. Die minimalistische Methode weigert sich, narrative Polster auf dem Skelett des Skripts anzulegen. Der Film, mit Nathalie Baye, Nicole Garcia, Marie Laforêt und Béatrice Dalle prominent besetzt, gleicht einer Dokumentation über den erschöpfenden Alltag einer medizinischen Sozialstation für minderjährige Frauen, zumeist aus Migrations-Familien mit strikter Sexualmoral, die Hilfe brauchen: psychologische Beratung, die Verschreibung der Pille, Informationen über Verhütungs-Methoden, die Überweisung für einen Schwangerschaftsabbruch. Jede Klientin wird ausführlich interviewt; hinter jedem »Fall« erahnt man eine Geschichte, die allein einen eigenen Erzählraum füllen würde.
Solche Einzelschicksale schildert »God Man Dog« von Singing Chen, die ihren Film eine Rhapsodie nennt. Die lose verbundenen, sich schließlich verknüpfenden Episoden folgen einem Thema: der Heillosigkeit einer materiell orientierten Welt, deren kulturelles Schlagwerk zum Stillstand gekommen ist, die sich spirituell entleert, deren Ordnungsmodell sich aufgebraucht hat. Zwischen Gott und Tier also rangiert der Mensch: das Engeltier. »The Kingdom of Heaven is near« verkündet zwar ein Schriftzug, aber es ist bloß ein Werbespruch für ein Freizeit-Resort. Taiwans Gesellschaftskörper ist hier krank an Leib und Seele und bedarf – tatsächlich wie metaphorisch – der Prothesen. Der zwanghafte Ordnungswahn einer jungen Frau nimmt ihrem Baby buchstäblich den Atem. Ein streunender Bursche hält sich am Leben, indem er bei Fresswettbewerben auftritt und haufenweise Instant-Nudeln in sich hinein schaufelt. Ein Truckfahrer mit künstlichem Bein, das ihm gewissermaßen ans Herz gewachsen ist, stöbert Buddha-Figuren auf, die er repariert, und kutschiert wie in einer surrealen Kitsch-Phantasie auf seinem Lastwagen eine riesige Götterstatue aus Plastik. Die Götter sind anwesend, aber um ihr Wesen gebracht. Ein Kreuz schaukelt im Gegenlicht. Ein Gebet bleibt unerhört.
Dortmund; 21. bis 26. April 2009; www.frauenfilmfestival.eu