Seit 2003 ist der frühere Bundeswirtschaftsminister Werner Müller Vorstandsvorsitzender der Essener RAG AG. Unter seiner Leitung will die einstige Ruhrkohle AG ein »strotznormaler« (Müller) Konzern werden. Will sagen, die RAG konzentriert sich auf die Hauptgeschäftszweige Immobilien, Energie (STEAG), Chemie (Degussa) und Bergbau (Deutsche Steinkohle AG). Von der DSK, die am Tropf öffentlicher Milliarden-Subventionen hängt, will sich der Konzern auf mittlere Sicht trennen. Müllers Idee: Die RAG geht an die Börse, der Staat erhält den Platzierungserlös, aber übernimmt dafür das volle Bergbau-Risiko. Die Ankündigung der neuen NRW-Landesregierung, die Steinkohlesubvention massiv zu kürzen, dürfte diesen Plan befördern; als Termin für den Börsengang gilt 2007. Inzwischen hat Werner Müller RAG-intern zehn Vorstände ausgetauscht und 280 Unternehmen mit insgesamt 22.000 Mitarbeitern verkauft – offensichtlich ohne größere Verwerfungen. Zur »Strotznormalität« seiner renovierten RAG gehört, dass der Konzern, wahrscheinlich unter einem neuen Namen, sich einen Platz im Feld des Symbolischen erobert, wie es große Firmen heute üblicherweise tun: Die RAG strebt nach einem unverwechselbaren Image, zu dem neben einer Betriebsethik auch ein verstärktes kulturelles Engagement gehört (Aalto-Oper, RuhrTriennale, Ruhrfestspiele, Klavierfestival Ruhr, Bewerbung Essens als Kulturhauptstadt).
Werner Müller wurde 1946 in Essen geboren, er ist diplomierter Volkswirt und promovierter Linguist, 2004 wurde er als externes Mitglied des Rates der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« in Berlin bestellt, denn seine Leidenschaft gilt der E-Musik: Er spielt exzellent Klavier, in seinem Büro im 18. Stock der Konzernzentrale finden sich keine Akten, dafür Dutzende von CDs. Die RAG erwirtschaftete 2004 einen Umsatz von 18,7 Milliarden Euro und beschäftigt derzeit knapp 100.000 Menschen. Kurz vor den Landtagswahlen hat Müller die Genehmigung zum Bau einer neuen Zeche beantragt.
INTERVIEW: LUDGER CLASSEN & ULRICH DEUTER
K.WEST: Die RAG will seit einigen Jahren nicht nur im Geschäftlichen weg von der Kohle, sondern auch ihr Image davon befreien. In Ihrem Haus reagiert man schon empfindlich, wenn man zur RAG »Ruhrkohle« sagt. Ekelt die RAG sich mittlerweile vor dem Schweiß des Bergbaus?
MÜLLER: Nein, denn Ihre Frage beinhaltet etwas Falsches: Wir wollen nicht weg von der Kohle. Wir bekennen uns ausdrücklich zur Kohle, denn sie ist ein wichtiger Energie- und Rohstoffträger für den Industriestandort Deutschland. Was wir ändern müssen ist der Eindruck, dass wir ausschließlich ein Kohlekonzern sind, was im Namen Ruhrkohle früher zum Ausdruck kam. Die deutsche Steinkohle ist Wurzel des Konzerns, aber es sind inzwischen viele andere Pflanzen erwachsen und machen den ganz überwiegenden Teil des Umsatzes aus. Ich muss ja beispielsweise gegenüber den Mitarbeitern der Degussa auch Verantwortung tragen. Diese 44.000 Mitarbeiter arbeiten – ebenso wie andere unserer Konzernmitarbeiter – nicht unter Tage. Auch deswegen müssen wir das Image den Tatsachen anpassen. Aber das ändert nichts an unserem klaren Bekenntnis zur deutschen Steinkohle.
K.WEST: Wie macht man das, einer ganzen Firma ein neues Image verpassen?
MÜLLER: Indem Sie beispielsweise schlicht sagen, was aus der früheren Ruhrkohle geworden ist. Indem Sie erklären: Wir sind ein großer Immobilienkonzern, ein großer Chemiekonzern, wir sind auch ein sehr bedeutender Energie-, insbesondere Stromkonzern, beispielsweise dort der fünftgrößte in Deutschland. Und das alles ist aus der ehemaligen Ruhrkohle entstanden.
K.WEST: Bedeutet Image nicht doch etwas anderes, eben etwas bildhaft Griffiges?
MÜLLER: Natürlich, aber zunächst müssen Sie Wissen darüber vermitteln, was den heutigen RAG-Konzern ausmacht. Denn ein Image, hinter dem keine harten Fakten stehen, trägt auf Dauer nicht. Ich muss erst einmal das Faktum vermitteln, dass die RAG weit mehr ist als vormals die Ruhrkohle. Dann werden wir vermitteln müssen, dass wir mit diesem großen Industriekonzern auch Verantwortung im gesellschaftlichen Prozess übernehmen. Das ist eine Verantwortung, die nicht nur Arbeitsplätze betrifft, sondern zum Beispiel auch Integration in die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets. Das heißt, dem RAG-Konzern ein Image zu geben, dass er – bildhaft gesprochen – ein guter, moderner Staatsbürger ist. Wir sind bei der Vermittlung dieses Wandels ein gutes Stück vorangekommen. Ich will Ihnen das deutlich machen: Wir bekommen viele unaufgeforderte Bewerbungen hoch qualifizierter Leute, die uns sagen: Bei euch ist es spannend, kann ich da mitmachen? Das ist ein Detail, an dem ich erkenne: Wir sind auf dem richtigen Weg.
K.WEST: Besteht eine Verbindung zwischen der Image-Neubildung der RAG und der des gesamten Ruhrgebiets?
MÜLLER: Das gehört irgendwo zusammen. Das Ruhrgebiet ist ja schon mal abgeschrieben worden als veraltet, weil nur aus Kohle und Stahl bestehend. Daran stören mich zwei Dinge: Erstens haben Kohle und Stahl Zukunft. Kohle ist einer der wichtigsten Energieträger und auf der Welt sogar der expansivste. Beim Stahl ist es ähnlich: Stahl ist einer der modernsten Werkstoffe der Welt. Nicht umsonst steigt der Kohle- und Stahlbedarf weltweit ganz enorm, wenn Länder wie Indien und vor allem China sich in diesem Tempo weiterentwickeln. Das merken wir auch ganz direkt an der steigenden Nachfrage nach deutscher Bergbautechnik. Insofern sind diese beiden Stützen des Ruhrgebiets nicht alt, sondern hochmodern. Die RAG ist Bestandteil des Ruhrgebiets und nicht der unwichtigste. Wir sind der größte Arbeitgeber hier und das auch außerhalb der Steinkohle. Alles, was wir an Imagebildung für unser Unternehmen tun, ist auch immer ein Stück Imagegestaltung für das Ruhrgebiet. Und umgekehrt.
K.WEST: Man hört, dass die RAG sogar über einen neuen Namen nachdenkt. Dann erinnert nichts mehr an die Wurzel der Firma. Ist das nicht Verrat an der Region, mit der die Ruhrkohle AG groß geworden ist?
MÜLLER: Nein. Ein neuer Namen hängt auch mit dem Plan zusammen, Teile der RAG an die Börse zu bringen. Und wenn ich sage: »Teile«, dann ist klar, dass der Name RAG dafür nicht mehr taugen kann.
K.WEST: Die Bewerbung Essens zur Kulturhauptstadt, die die RAG unterstützt, war ja erfolgreich nur aufgrund des Brückenschlags zwischen dem alten industriellen und dem neuen kulturellen Ruhrgebiet. Wie ist generell das Verhältnis der neuen RAG zu ihrer Vergangenheit und damit der des Ruhrgebiets?
MÜLLER: Wir bekennen uns ausdrücklich zu unseren Wurzeln, und wenn es nach uns geht, gehört der deutsche Steinkohlenbergbau auch zur Zukunft des Konzerns. Aber das entscheidet letztlich maßgeblich die Politik. Wir bekennen uns zur Vergangenheit, denn wenn wir nicht wissen, wo wir herkommen, wissen wir nicht, wo wir hingehen.
K.WEST: Wie erklären Sie sich den Erfolg der RAG, die 1969 als Konsolidierungsunternehmen für die wankenden Zechengesellschaften gegründet wurde – mit staatlichen Subventionen. Und jetzt steht die RAG sehr selbstbewusst und erfolgreich da.
MÜLLER: Das hat etwas mit klaren strategischen Vorgaben, aber auch mit dem Selbstverständnis nach innen zu tun. Wir haben den Mitarbeitern neue Ziele vermittelt. Viele haben sich allzu lange so empfunden, wie Sie es angedeutet haben: Als Empfänger staatlicher Subventionen. Dass wir im Konzern zwei Bestandteile haben, nämlich den Bergbau einerseits, und das, was wir den weißen Bereich nennen – im Wesentlichen Stromerzeugung, Chemie, Immobilien – andererseits, musste man auch nach innen vermitteln. Und auch den Bergleuten haben wir stärker vermittelt, dass sie ein Gut produzieren, das der Staat braucht. Die Bergleute können auf ihre Leistungen zu Recht stolz sein. Und wenn die Mitarbeiter wissen, wo es hin geht, dann geht auch ein Ruck durch den Konzern. Jetzt arbeiten wir mit Elan an der Zukunftsgestaltung.
K.WEST: Stichwort Ruck: Gerade hat sich die RAG ein Konzernleitbild gegeben – »Erfahrung«, »Entwicklung«, »Verpflichtung«, »Einsatz«, »Mut zu Neuem« sind die Haupt-Schlagworte. Warum braucht man so was? Was sind die Essentials der RAG-Verfassung?
MÜLLER: Ganz einfach gesagt: Man soll einen Mitarbeiter so führen, wie man selbst gern geführt werden möchte. Ich glaube, dass aus diesem einfachen Satz viele Untersätze abzuleiten sind. Ich kenne nur wenige Ausnahmen, wo dieses schlichte Prinzip nicht alles erklärt. Dies liegt auch unserer neuen Konzernverfassung zu Grunde, in der wir unsere gemeinsamen Konzernwerte festgehalten haben. Diese Konzernwerte sind der Kern für ein gemeinsames Selbstverständnis der RAG und geben den Mitarbeitern Orientierung für unser Handeln. Wir sind als RAG-Konzern auf dem Weg, eine Einheit zu werden. Und damit das in allen Teilen des Konzerns auch eine Selbstverständlichkeit wird, ist es gut, ein gemeinsames Werteselbstverständnis zu entwickeln, wie wir es jetzt getan haben. Aber: Gemeinsame Werte zu haben, ist die eine Sache. Die andere ist, diese Werte zu leben. Und dieser Schritt ist mir persönlich weitaus wichtiger, denn nur dann hat es Sinn, solch eine Konzernverfassung aufzuschreiben.
K.WEST: Es ist auffallend, dass die RAG, wohl im Zusammenhang mit Ihrer Person, sich neuerdings vermehrt im Ruhrgebiet und zwar vor allem in Sachen Kultur engagiert. Hat das mit diesem neuen Image der RAG zu tun?
MÜLLER: Ich denke schon. Im Ruhrgebiet sind viele aufgebrochen, etwas zu bewegen. Zum Beispiel auch im kulturellen Sektor. Und zu diesen neuen Bewegungen, wobei »neu« durchaus ein Jahrzehnt sein kann, gehört die Etablierung kultureller Höhepunkte. Nehmen Sie das Klavierfestival Ruhr: Das funktioniert vollkommen staatsfrei. Es wird in der Grundlast aus einem allgemeinen Topf finanziert, den der Initiativkreis Ruhrgebiet zur Verfügung stellt, aber der ist ja auch staatsfrei. Und es lebt zum überwiegenden Teil dadurch, dass die Unternehmen des Ruhrgebiets, nicht nur die großen, sondern auch mittlere Betriebe, jeweils einen Klavierabend übernehmen. Nehmen Sie die RuhrTriennale, nach nur einer Periode schon ein auch international bekanntes und beachtetes Kultur-Event, das nun unter neuer Intendanz in die nächste Phase geht. Nehmen Sie auch etwas ganz Traditionelles wie die Ruhrfestspiele – all das muss ja von irgendetwas leben. Und das alles kann nur leben, wenn Industrie und Wirtschaft der Region ein Stück weit mithelfen. Ich habe erlebt, dass viele Vertreter unserer Wirtschaft so denken. Wir haben für die bis heute erfolgreiche Kulturhauptstadt-Bewerbung Essens zweimal bei uns im Haus zu einer Unterstützerkonferenz eingeladen. Jetzt werden wir das ein drittes Mal für die Europabewerbung machen, diesmal voraussichtlich mit unserem neuen Ministerpräsidenten Dr. Rüttgers. Die notwendigen finanziellen Hilfen haben wir, die Unternehmen der Region, auch jedes Mal gemeinsam bereitstellen können. Es freut mich, dass es für jeden ein Stück weit Verpflichtung bedeutet, zu der er sich auch ganz konkret mit einem Scheck bekennt.
K.WEST: Aber wieso? Für Sie als Unternehmer ist das doch eigentlich Geldvernichtung!
MÜLLER: Auf keinen Fall, im Gegenteil. Wenn wir wirklich gut sind, helfen wir hier der Region, ein Image aufzubauen, das besser ist als das der anderen. Dies ist ein wichtiger Standortfaktor: Hier ist mehr Kulturleben als in den Metropolen Berlin oder München. Das wissen leider noch zu wenige, also müssen wir es demonstrieren. Wenn in München etwas stattfindet, lesen Sie in den großen Feuilletons eine Kritik. Wenn hier im Ruhrgebiet etwas stattfindet, lesen Sie in aller Regel nur eine Meldung. Es ist schon bemerkenswert, dass Herr Flimm im Beisein von 20 namhaften Künstlern, des stellvertretenden Ministerpräsidenten und einigen Unternehmensführern anderthalb Stunden lang sein Programm vorstellt, und manche überregionale Zeitung darüber zehn Zeilen geschrieben hat. Das kulturelle Leben hier, das sich im Deutschlandvergleich in keiner Weise mit anderen, als Kulturregion bekannten Regionen zu schämen braucht, findet in überregionalen Blättern gelegentlich gar nicht statt. Daran müssen wir noch arbeiten.
K.WEST: Die kulturelle Grundversorgung durch den Staat schwindet, der Ruf »Wirtschaft hilf!« ertönt immer lauter. Wie stehen Sie als Konzern, der sich neuerdings verstärkt in Sachen Kultur engagiert, zum Verhältnis von staatlichen Aufgaben und denen privater Kulturförderer?
MÜLLER: Ich habe viel Sympathie dafür, dass die Wirtschaft in Deutschland nicht übermäßig mit Steuern belastet wird. Das impliziert dann aber im Umkehrschluss auch die Frage: Wie finanziert unser Gemeinwesen dann gewisse Aufgaben? Einen Teil der Staatsausgaben wird man schlichtweg privatisieren können. Das muss dann aber marktgängig sein. Bei der Kultur haben wir es aber typischerweise und richtigerweise mit einer Causa zu tun, die nicht zwingend marktgängig ist. Wenn man einerseits sagt, der Fiskus soll die Wirtschaft nicht so belasten, dann müssen wir andererseits mit dem Staat darüber reden, wo man ein Stück seiner bisherigen Aufgaben übernehmen könnte – das gehört einfach zur gesellschaftlichen Verantwortung von Konzernführern im Staat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Unternehmenssteuern weiter senken, aber zum Schluss alle billigend in Kauf nehmen, dass dabei das Kulturleben abgeschafft wird.
K.WEST: Aber verpflichten zur Kultur kann man kein Unternehmen.
MÜLLER: Wenn Sie Unternehmen nicht verpflichten können – hier kommen wir zu einem Grundproblem des gesellschaftlichen Prozesses –, und die Einsicht auch nicht vorhanden ist, dass sie etwas machen müssen, dann haben Sie als Staat durchaus die Möglichkeit, das Ganze wieder staatlich zu regeln. Bei wieder höherer fiskalischer Belastung.
K.WEST: Könnten Sie sich vorstellen, dass die RAG, ähnlich wie es E.ON mit dem museum kunst palast in Düsseldorf tut, sich in einer Public Private Partnership an ein Kulturinstitut bindet?
MÜLLER: E.ON hat da ja durchaus Maßstäbe gesetzt. Bei RAG sind wir noch dabei, unseren Weg zu finden. So sind wir traditionell Sponsor der Ruhrfestspiele, und die Bitte wird auf uns zukommen, uns längerfristig dazu zu bekennen, damit das Festival zeitlich länger planen kann. Ähnliches wird bei der RuhrTriennale geschehen. Wir sind bereits der Hauptsponsor, aber Jürgen Flimm wäre nicht Jürgen Flimm, wenn er nicht wüsste, was er nächstes und übernächstes Jahr plant. Und da braucht er einen finanziellen Rahmen.
K.WEST: Er hat also von Ihnen schon ein sanftes Kopfnicken erhalten?
MÜLLER: Zumindest kein heftiges Kopfschütteln. Wir wollen das alles wohlwollend prüfen. Wir haben uns dabei selbst Schwerpunkte gesetzt, die RuhrTriennale gehört mit Sicherheit dazu. So wie ich einen Termin mit dem Intendanten der Ruhrfestspiele habe, in dem es darum gehen wird, was man in Recklinghausen im nächsten Jahr machen könnte. Aber ich sage noch mal: Schön ist es, wenn diese ambitionierten Kulturprojekte allein aufgrund ihrer attraktiven Programme Sponsoren finden würden. Das Klavierfestival Ruhr kostet deutlich über eine Million. Es ist nirgendwo aufgeschrieben, wie es finanziert wird. Aber es läuft jedes Jahr.
K.WEST: Herr Müller, Sie sind als Geisteswissenschaftler und Musiker unter Top-Managern ein rosa Elefant. Wie kommt man als Kulturmensch mit Menschen aus, die aus der Wirklichkeit der BWL stammen?
MÜLLER: Vergessen Sie nicht, ich bin diplomierter Volkswirt. Ich komme hier gut zurecht. Einige haben mit mir manchmal Schwierigkeiten, weil ich sage, was ich denke.