In Köln ist 2005 so etwas wie ein heiliges Jahr. Schon Wochen bevor Jugendliche zu Tausenden an den Rhein pilgerten, »um IHN anzubeten« und nebenher den neuen Papst beim Weltjugendtag auf seine Starqualitäten zu prüfen, schien die Atmosphäre der Stadt mit Religiösem gesättigt. Da bahnte sich schon mal ein starker Trupp rosenkranzbetender Marienverehrer in Wanderausrüstung einen Weg ausgerechnet durch das Flohmarktgewimmel am Rheinufer, während zur selben Zeit auf dem Roncalliplatz, im Schatten des Doms, die Konkurrenz von der örtlichen Hare-Krishna-Gruppe in Aktion trat. In deren »Ratha-Yatra«-Fest mit schallverstärktem Mantra-Murmeln wiederum mischte sich der Gesang eines Muezzins, der lauthals immer wieder zum Gebet rief, als wolle er die mächtige Kirche nebenan herausfordern. Letzteres war allerdings keine islamistische Provokation, sondern das Werk des skandalophilen Christoph Schlingensief. Seine Installation »Church of Fear« gehört zu einer Reihe von Museumsprojekten über Gott und die Welt, die in Köln um den Jugendtag herum arrangiert wurden. Sie bieten auch nach dem frommen Sommer noch Gelegenheit, dem Thema Religion in Ruhe nachzuspüren.
Wenn man vom Alten Markt her auf das Museum Ludwig zugeht und nach oben schaut, kann man sie sehen, die »Church of Fear«. Dort, inmitten der charakteristischen Ludwig-Dachlandschaft, hockt verloren eine weiße Kapelle. Schlingensief hatte sie 2003 in Venedig aufgebaut, aus Anlass des Irak-Krieges. Nun ist sie auf die Dachterrasse des Museums verpflanzt: vor erzkatholisch bischofstädtischer Kulisse die verkleinerte Kopie einer hölzernen Dorfkirche aus tiefster amerikanischer Provinz. Nur dass auf dem Plakat vor der Kapelle nichts von Jesus steht, sondern: »Fear is the Answer«. Und auf dem Tisch liegen keine Pamphlete gegen Abtreibung, sondern vorgebliche Werbung der »CoF – Internationale Dachgemeinschaft für Sekten und Religionsgemeinschaften«. Im Dachreiter der Kapelle hängt keine Glocke, sondern ein Lautsprecher, aus dem ein ums andere Mal – der Muezzin tönt. Im Innern steht allerdings wieder ein Beichtstuhl. An dessen Seite findet sich ein Schlitz, durch den man voyeuristisch Live-Aufnahmen vom Domplatz auf einem Fernsehschirm verfolgen kann. Ein Bildschirm auf der Rückseite des Beichtstuhls zeigt im Zeitraffer die Verwesung eines Hasen, untermalt mit Wagner-Klang: Zitat aus Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Inszenierung 2004.
Als »schlechtes Gewissen der Kirche« bezeichnete Schlingensief seine »CoF« in Köln. »Wir lassen nicht zu«, so tönte er, »dass Monopolisten der Angst in Kirche, Politik und Medien mit unseren Ängsten machen, was sie wollen. Wir sagen ja zur Angst. Wir addieren und sublimieren Angst.« Nun ja. Bei Schlingensief weiß man nie. Gleichwohl und auch wenn die Installation künstlerisch kaum über Vergleichbares aus den 70er Jahren hinausgeht: Im religiös bewegten Köln des Jahres 2005, auf dem Dach eines Museums und immer noch weit unterhalb der gotischen Domtürme, geht von dem Kapellchen eine verblüffend irritierende Wirkung aus, die jugendliche Papstbegeisterung, Hare-Krishna-Singsang und Rosenkranz-Wanderfreunde ausspielt gegen die weltweite Verquickung von Religion, Politik und Terror.
Die ambitionierteste der Kölner Religions-Ausstellungen bietet das Wallraf-Richartz-Museum: »Ansichten Christi. Das Christusbild von der Antike bis zur Gegenwart«. Trotz des unverfänglichen Titels und vermutlich sehr gegen die Absicht der Ausstellungsmacher – das Museum arbeitete mit dem Vatikan zusammen – zieht diese Schau eine seltsame Parallele zur »Church of Fear«. Denn bei »Ansichten Christi« wird der Besucher zwar mit El Grecos großformatiger Vision von Christi Auferstehung und triumphaler Himmelfahrt empfangen, doch die überwiegende Mehrzahl der 90 Werke zeigt, was vorher war – Passion, Leiden, Kreuzigung, Folter und Tod, oft mit großer Liebe zum grausigen Detail: Church of Horror. Mal dominiert Jesu schmerzverzerrtes Gesicht, mal seine gedemütigte Gestalt, mal fließen Ströme von Blut aus seinen Wunden, mal sieht man den Folterknechten zu, wie sie mit großen Hämmern mächtige Nägel in die Füße des Gemarterten schlagen. Zwar ist jedermann hierzulande mit den Szenen halbwegs vertraut, doch anders als in der Kirche oder im Rahmen einer normalen Hängung wirkt die Wiederholung des Schreckens im schwach beleuchteten Untergeschoss des Museums morbid, beklemmend. Immerhin: Wer fremde Religionen seltsam oder beunruhigend findet, den mag diese Zusammenschau nachdenklich stimmen: Wie sollten Menschen anderer Kulturkreise solch grausige Bilder als Vermittlungen einer »frohen Botschaft« vom ewigen Leben verstehen können, wie sollten sie die Szenen nicht befremdlich und beunruhigend empfinden – und den Glauben an die Geschichte vom geopferten Gottessohn als schwer begreifliches sacrificium intellectus?
»Wie Christus aussah, glaubt man zu wissen«, heißt es im Katalog. Tatsächlich aber haben Künstler ihn nach dem Schwinden des jüdisch inspirierten Bilderverbots überaus verschieden gezeigt. Die Extreme: Rubens’ auferstandener Erlöser von 1616 ist ein Athlet nach antikem Ideal, wohlgenährt und mit bloßen Kratzern als Minimalzeichen des Leids. Max Beckmann gestaltet 300 Jahre später einen Christus, der als ausgemergelte Leiche vom Kreuz genommen wird, hässlich, entwürdigt, mit eingefallenem Schädel, mit überlangen, starren Gliedmaßen, die auf peinlich berührende Art zweifach diagonal übers Bild ragen. Man denkt heute unweigerlich an die Leichenhaufen in Konzentrationslagern, doch Beckmann hat 1917 die Leichen des Weltkrieges vor Augen. Nicht, wie bei Rubens, kraftstrotzender Sieger über den Tod ist sein Christus, sondern Abbild des sinnlosen Sterbens ohne Hoffnung.
Im übrigen, das demonstriert die Ausstellung sinnfällig, haben Künstler den Gottessohn gern nach den Vorstellungen ihrer eigenen Zeit und Kultur gemalt – mal als blonden Kraftprotz, mal als dunkellockigen Schönen, mal als blutarmen Jüngling mit vorstehenden Augen und hoher Stirn. Zuweilen schufen sie Christus unbekümmert nach dem eigenen Abbild, wie etwa Albrecht Dürer – eine Idee, die nach heutigem Verständnis blasphemisch anmutet. Dagegen wirkt Alexej von Jawlenskys farbiges, von realen Vorbildern weitgehend abstrahiertes »Heilandsgesicht: Schweigen« wie eine demütige Annäherung an das Thema, auch wenn das konservative Zeitgenossen 1918 anders gesehen haben dürften. Spätere Künstler schließlich kehrten gleichsam zu den vor-bildlichen Anfängen zurück. In Köln gezeigte »Bilder vom Nicht-Darstellbaren« sind Andy Warhols grafische »Crosses (Twelve)« von 1981-82, Joseph Beuys’ »Halbiertes Filzkreuz mit Staubbild Martha« von 1960/65 oder Yves Kleins Werk ohne Titel von 1961, das mit einer Blattgoldfläche und kleinen Spuren blauen Pigments eine ganze Flut von Bildern in dieser christlichen Materialsymbolik beim Betrachter hervorruft.
Eine kleine, thematisch verwandte Ausstellung ist im alten Kölner Diözesanmuseum Kolumba zu sehen: »Arma Christi« führt zwar die Werkzeuge der Passion Christi im Namen, ist aber doch weniger auf die Darstellung des grausamen Geschehens fixiert. Was den als »Gottesmördern« denunzierten Juden jahrhundertelang versagt blieb, wurde den Folterinstrumenten wohl zuteil: Sie wurden gesehen als notwendige Werkzeuge, durch die erst der Gottesssohn seine Passion durchleiden, sterben und die Menschen erlösen konnte. So wurden Marterwerkzeuge schließlich zu »Arma«, zu »Waffen des Glaubens«, und vermeintliche Bruchstücke dieser Instrumente wurden im Mittelalter zu begehrten und verehrten Reliquien. Zwei winzige solcher Reliquien stehen, obwohl kaum sichtbar, im Zentrum der Ausstellung: Splitter von Christi Kreuz und Dornen seiner Krone aus dem Besitz des Königs Ludwig IX. (des Heiligen) von Frankreich. Für diese Reliquien wurden im 13. Jahrhundert eine prächtige Krone und zwei Kreuze aus Gold gefertigt. Die kostbaren Stücke mit den eingearbeiteten Dornen und Splittern gelangten später in den Besitz der sächsischen Wettiner, überlebten 1945 das Inferno von Dresden. Die Krone wurde an Frankreich verkauft und seither im Louvre aufbewahrt; die beiden Kreuze gelangten vor vier Jahren in den Besitz des Kölner Diözesanmuseums. Nun sind die drei Stücke vorübergehend wieder vereint: prächtige Symbole, nicht für die Macht und Herrlichkeit des heiligen Ludwig, sondern jene des wiederauferstandenen Dornenkönigs.
Mit »Buddhisten – Jainas – Hindus. Auf der Suche nach dem Gottesbild« bietet das Rautenstrauch-Joest-Museum das Komplementär zu den »Ansichten Christi«. 60 Bronze- und Steinskulpturen, entstanden zwischen dem 2. und dem 18. Jahrhundert, verkörpern die Götter der drei in Indien entstandenen und verwandten Religionen. Für den Buddhismus stehen Buddha, der vergöttlichte und unerreichbar ins Nirwana entrückte Religionsstifter Siddhartha Gautama, und die Bodhisattvas – Erleuchtete, die auf ihre eigene Erlösung noch verzichten und sich den Menschen helfend zuwenden. Die unnahbaren Tirthankaras (Wegbereiter) der Jainas haben keine fürs Seelenheil der Menschen zuständigen Helfer, während die Vertreter der hinduistischen Götterwelt – Vishnu, Shiva und seine Gefährtin Parvati sowie ihr elefantenköpfiger Sohn Ganesha – sehr direkt auf das Leben der Gläubigen einwirken.
Auf anatomische Korrektheit kam es den Künstlern in Indien, Burma, Thailand, Kambodscha, Nepal, Tibet, China und Korea nicht an – so weit ging die Vermenschlichung der Götter nicht. Mimik, Gestalt, und Gestik sollten das Wesen der Götter zeigen. Deshalb strahlen die buddhistischen Figuren warme Menschlichkeit aus, besonders die freundlichen Bodhisattvas. Als handelnde Wesen haben die zwar oft mehrere Köpfe und Arme – wie Ungeheuer erscheinen sie aber nur dem, der ihre menschenfreundliche Rolle nicht kennt. Kraft und Sinnlichkeit zeigen die in ihrem Wesen ambivalenten Hindu-Götter. Kalt, abweisend sind die Gottskulpturen der Jainas. Mit ihren glatten Konturen, überlangen Armen, breiten Schultern und kräftigen Oberschenkeln wirken die »luftgekleideten«, geschlechtslosen Tirthankaras seltsam unwirklich – wie Aliens, die sich bei Berührung in irisierendem Licht auflösen könnten.
Der Kontrast zwischen diesen Wesen und den Bildern vom christlichen Gottessohn in »Ansichten Christi« könnte auf den ersten Blick größer nicht sein. Doch gibt es deutliche Parallelen. Zumindest im Buddhismus orientierten sich die Künstler, wie ihre christlichen Kollegen, am ganz realen Leben: Die Gesichter der Buddhas und Bodhisattvas zeigen deutlich Charakteristika des jeweils eigenen Volkes. In Kambodscha erscheint Buddha zeitweise im Habit der Könige, weil die sich mit dem Gott identifizieren. Der elefantenköpfige Ganesha wiederum mag fremd und wenig menschlich erscheinen, doch dass der Weisheitsgott für knifflige Probleme der Gläubigen zuständig ist und vor Reisen und schwierigen Geschäften befragt werden kann, das kommt katholischen Christen bekannt vor, auch wenn sie diese Götterfunktion auf ihre Heiligen übertragen haben.
Im Treppenaufgang zur Ausstellung hängen 25 Fotoporträts mit kurzen Kommentaren – Seminararbeiten Düsseldorfer Ethnologiestudenten, die sich mit den Glaubensgemeinschaften im heutigen Köln befasst haben: Muslime sind dabei, Juden, nordamerikanische Freikirchen und Sekten, Jesus-Freaks und germanische Neuheiden, Krishna-Jünger und eben auch Hindus und Buddhisten: »Eine Frage des Glaubens« – so der Titel der kleinen Fotoschau. Nicht jedermann ist für solche Belehrung in religiöser Toleranz empfänglich. Im Gästebuch der Buddha-Schau hat sich so einer verewigt, der wohl auch die günstige Gelegenheit versäumt hat, Ganesha zu befragen, den weisen Gott für Kniffliges. Gönnerhaft und scheinheilig raunt die Eintragung: »Die asiatischen Religionen finden ihre Erhöhung im Christentum.« Da werden sich Buddhisten, Jainas und Hindus aber freuen.
Museum Ludwig, bis 29. September 2005; Wallraff-Richartz-Museum, bis 2. Oktober; Diözesanmuseum, bis 16. Oktober; Rautenstrauch-Joest-Museum, bis 2. Oktober. www.museenkoeln.de und www.kolumba.de