// »Love will tear us apart«, »Isolation«, »A Forest« – Es sind diese Songs aus den frühen 1980ern, die plötzlich wieder im Kopf spielen, wenn man sich die Fotografien Paul Grahams anschaut. Der 1956 im britischen Stafford geborene Graham guckt sich Menschen und Dinge auf eine ebenso genaue wie unaufgeregte Weise an. Die zwischen 1996 und 98 entstandene Bildserie »End of an Age« (1996–98) belegt, wie Paul Graham beobachtet: zurückhaltend. Er schaut vom Rand her, aus für Fotograf und Modell sicherer Entfernung. In unterschiedlichen Spielarten des Fotografischen probiert Graham in »End of an Age« Porträts aus. Dabei zeigt er sein Personal mal porentief nah und im grellen Blitzlicht, mal in Unschärfen und Farbnebeln. Jeden der Porträtierten umfängt Graham mit einem farbigen Umraum, der die Person sowohl zu schützen als auch zu isolieren scheint. Niemand tanzt. Niemand lacht. Niemand schaut in die Kamera. Manche rauchen, schauen in die Ferne.
Diese Fotografien sind Bestandsaufnahmen aus der Clubkultur, für die sich in den 90er Jahren viele interessierten. Doch wo Rineke Dijkstra ihre Modelle in einem fast altmeisterlichen Manierismus inszeniert und Wolfgang Tillmans auf das potenziell Utopische dieser modernen Wahlverwandtschaften im Strobe-Light verweist, macht Graham ein Befindlichkeits-Vakuum sichtbar. Er zeigt das Ende der euphorischen Teenagerträume und das erst noch zu benennende Neue, das diese jungen Erwachsenen noch nicht für sich gefunden haben.
»End of an Age« verweist auf das Markante im Werk Paul Grahams: Fotografie, die Raum für Verunsicherung lässt; für Ausweitung und Verdichtung. Diese Art des Schauens formuliert eher Fragen als Aussagen. Graham interessiert sich hier – wie in allen seinen Serien – für unabsichtliche Haltungen und für beiläufige Gesten und Blicke, die mehr über Befindlichkeiten verraten als das offensichtlich Inszenierte. Dabei pflegt er eine kühl wirkende Distanz, aus der eher Respekt denn zynisches Unberührtsein spricht. Graham sucht das Vage, eben im Entstehen Begriffene, noch nicht Kodifizierte ins Bild zu setzen.
So ist auch eine Serie wie »New Europe« (1988–92) typisch für das fotografische Sehen Grahams: anstatt die zentralen Schauplätze und großen Rituale mit der Kamera zu beobachten, in denen das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rasch wachsende Europa sich seiner selbst vergewissert, besucht er die Orte des Werdens, Provisorien, aber auch Fragmente des Vergangenen. Wie etwa das Grab Francos oder ein paar haltlose Feste, in denen nicht ganz klar zu sein scheint, was eigentlich gefeiert wird.
Der mittlerweile in New York lebende Graham zeigt sich in seinem Werk gleichermaßen vom britischen Sozialdokumentarismus, starken amerikanischen Schwarz-Weiß-Positionen wie Lee Friedlander oder Diane Arbus als auch von »New Topographers« wie Stephen Shore oder William Eggleston beeinflusst. Doch entwickelte er diese Anregungen weiter zu einer originären und oszillierenden Bildsprache, die gleichermaßen Dokument und Konzept ist, und immer auch mit den Gehalten der Farbe experimentiert. Graham reduziert oder intensiviert die Farbigkeit des Dargestellten – und lässt in seinen Fotografien genug Raum für die jeweilige Wirkung. Die so entstehenden, gelegentlich kaum spürbaren semantischen Verschiebungen im Bild öffnen es für neue Kontexte jenseits des Gezeigten. Graham beobachtet, ohne Bedeutung vorgeben zu müssen. Er fotografiert, ohne zu urteilen und verhandelt damit grundlegende Fragen der Fotografie.
»Ein Foto ist keine Meinung. Oder doch?« fragte Susan Sontag einmal. Die Antworten auf die Fragen, die Paul Graham in seinem Werk zu stellen vermag, bleiben dem Betrachter überlassen. Darin eignet dieser Art zu fotografieren, bei aller Beiläufigkeit und ihrem Interesse für Neben- und Randschauplätze, ein aufklärerisches Moment, ein Moment der Anteilnahme und eines engagierten Interesses, welche sie mit den Anfängen der sozialdokumentarischen Fotografie verbindet.
Paul Grahams Sujets wirken häufig wie in sich zurückgezogen, was den ruhigen, unaufgeregten Blick des Fotografen in seiner Genauigkeit vom Grund der Bilder hervortreten lässt. Eindrücklich belegt dies die frühe Serie »Troubled Land«, in der Graham 1987 den Nordirlandkrieg beobachtete. Hier kombiniert der Fotograf idyllisch wirkende Landschaftsansichten mit scheinbar alltäglichen Szenen. Er guckt auf das Leben abseits des Krieges, das doch genau in dessen Zentrum stattfindet. Graham fragt, wie dieses Leben weitergeht und er interessiert sich dafür, wie es aussieht.
Dieser Fotograf suggeriert nicht, er argumentiert nicht. Er buhlt ebenso wenig um Aufmerksamkeit, wie es die tun, die er in den Sucher nimmt. Dies prägt auch eine Serie wie »Beyond Caring«, die 1984–85 entstand: eine Reihe von Fotografien aus britischen Arbeitsämtern, fotografiert aus der Perspektive der Wartenden, zeichnet die unspektakuläre, trostlose Seite des Thatcherism.
In fotografischen Themenausstellungen der letzten Jahre war Graham auch in Deutschland immer wieder präsent, doch es ist Kuratorin Ute Eskildsens Verdienst, die Arbeiten des Fotografen schon früh für die herausragende fotografische Sammlung des Museum Folkwang ankaufte, ihm hierzulande eine erste umfassende Retrospektive einzurichten.
In Essen zeigt man nun elf der wichtigsten Werkgruppen Grahams, die in den Jahren 1981 bis 2006 entstanden. Auch die zwei jüngsten, in den USA fotografierten Bildserien sind hier zu sehen: »American Night« (1998–2002) und »A Shimmer of Possibility« (2004–2007). »American Night« versammelt Bestandsaufnahmen vom sozialen Rand der amerikanischen Gesellschaft und schonungslose Blicke auf die urbanen Abseitigkeiten des American Dream mit Reihenhaus und Carport im Niemandsland. Der Fotograf kombiniert dabei scheinbar sachliche Architekturfotografien und weiß verschleierte Straßenszenen wie aus einem surrealen, verblassenden Traum. »A Shimmer of Possibility« hält in filmischen Sequenzen die einfachsten Verrichtungen des Alltags fest: Einkaufen. Essen. Rasenmähen. Beide Bildserien belegen eindrücklich die inhaltliche und formale Komplexität, zu der sich Grahams Werk mittlerweile verdichtet hat. Diese Sequenzen sind nicht nur formal faszinierend, sie belegen auch das Interesse des Fotografen an Präsen- tation und Gestaltung von Fotografie, welches einen weiteren zentralen Aspekt der Essener Retrospektive bildet.
Beide Serien wurden von Graham auch als aufwendige Buchobjekte gestaltet: das großformatige »American Night« wurde den epischen Formaten der Originale angepasst – während zu »A Shimmer of Possibility« gleich zwölf kleine Bände entstanden sind, die jeweils eine der Sequenzen enthalten. Von Beginn seiner Karriere konzentrierte sich der Fotograf auch auf die adäquate Umsetzung seiner Bildserien in Büchern, in denen er formal einen ähnlich innovativen Anspruch verfolgt wie in seinem fotografischen Ansatz. Dies ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die frühe Förderung seines Werkes in Großbritannien in den 80er Jahren vor allem in Form von Büchern geleistet wurde und Grahams Arbeiten auf diesem Wege zuerst Verbreitung fanden. So wundert es nicht, dass Paul Graham vor der Hängung seiner Essener Ausstellung eine Menge Zeit an den Druckmaschinen des Verlages zubrachte, der sein neues Buch herausbringen wird. //
Bis 5. April 2009, Katalog erschienen im Steidl Verlag, 48 Euro. Tel.: 0201/8845314. www.museum-folkwang.de