// Der Weltkreis des Prinzen passt unter seinen Pullover. Dehnen kann er das schlabberige Ding, bis es ihm bis über die Knie passt und er beinahe ganz drin verschwindet: Ich schließe die Augen, tauche ab und niemand kann mich sehen. Im Infanten steckt – schon namentlich – das Kind. Ob es sich aber um einen derart dummen Jungen handeln muss? Gleich zu Anfang schreit Carlos nach »Mutter«, die doch eher die ihm genommene Geliebte ist, und demoliert sein Zimmer (alle Kammern des spanischen Palastes sehen aus wie Zellen oder Behördenbüros, die auf Raimund Bauers Bühne im Grillo-Theater der Einfachheit halber und zur Illustration des Überwachungsstaats als Videobild auf eine Zwischenwand projiziert werden). Später wirbelt er wie wild mit Schlagzeug-Sticks und übt sich im Kickboxen, womit er seine überschüssige und trotzdem komplett verpuffende Energie auf Männer wie Frauen wirft, die eine (Eboli) ohrfeigt, die nächste (Elisabeth) bekniet und herzt, den
Gegner (Alba) attackiert, den Freund (Posa) bestürmt und den Vater (Philipp) markig von seiner Männlichkeit zu überzeugen sucht. Man kann den Monarchen nur zu gut verstehen, dass er diesem Hitz-, Wirr- und Kindskopf nichts zutraut, schon gar nicht die Armeeführung und Regentschaft über die flandrischen Provinzen. Wie der Marquis und die Königin irgend Hoffnung in diesen Fant setzen können, der in Gestalt des Nicola Mastroberardino kaum seine Hosen auf den Hüften halten und die dunkle Lockenpracht bändigen kann – geschweige die bei Schiller unübersichtlichen Brief-Intrigen entwirren oder seinen Tonfall anders als in alberner Emphase gestalten –, ist die spannendste Frage, die der Abend im Schauspiel Essen aufwirft.
Freilich sieht es nicht danach aus, als hätte dieses Bubenstück Anselm Weber Kopfzerbrechen bereitet, so wenig wie Schillers dramatisches Gedicht in fünf Akten, das er auf bequeme zweidreiviertel Stunden rafft und auf Thrill trimmt. Er führt vor, wie allgemein gesunder Abonnenten-Verstand sich ein feudales Zwangssystem und seine Deformationen denkt: Der arge Alba geht am Stock und kommt aus dem Museum der Franco-Diktatur, der Priester ist tückisch, der Kardinal-Großinquisitor von abstrakt kalter Räson, aber in seiner Strickjacke auch nicht ungemütlich. Die Elisabeth der Barbara Hirt trägt klugen, schlanken Edelsinn. Der König (Andreas Grothgar) bleibt eng, steif und zugeknöpft in seinem Wesen und seiner Eitelkeit, leistet sich höchstens mal mit der Eboli (Therese Dörr mit dem Appeal des versehrten Mauerblümchens) verdrucksten Sex im Büro und erträgt es nicht, dass die Jugend das Alter aussticht, und sei es nur an Lebenszeit. Posa schließlich – bei ihm wie in den Frauenfiguren gewinnt die Aufführung Originalität – ist bei Roland Riebeling kein fanatischer Phantast des Idealen. Dieser behäbige, bebrillte Stubenhocker, damit Gegenmodell zum Springinsfeld Carlos, verhält sich zu neunmalklug, um seinen Idealzustand zu erleben.
Es bietet sich an, Webers Inszenierung als Visitenkarte für die Bochumer Intendanz zu betrachten. Nun denn, statt Goerdens dramaturgisch gestopftem Konzepttheater sehen wir schmal geschnittenes Stadttheater. Ein Systemwechsel. Man weiß, wie in Schillers »Don Carlos« der Versuch dazu endet. // AWI