Baz Luhrmann erobert den fünften Kontinent mit Nicole Kidman
// Die erste halbe Stunde muss man überwinden. Da »Australia« aber knapp drei Stunden dauert, lässt sich diese Ouvertüre verschmerzen, die – typisch für Baz Luhrmann – eher parodistisch funktioniert und seine aus »Romeo und Julia« und »Moulin Rouge« bekannte Erzählhaltung wiederholt, die kurioserweise gleichzeitig naiv und ironisch ist. Jeder Auftritt eine Pose, jede Einstellung ein Zitat: ob eine Schlägerei im Saloon oder selbst noch das Hoppeln eines Kängurus, das der Regisseur als Verbeugung vor Howard Hawks’ »Hatari« inszeniert. Filme wie »Australia« gab es massenhaft, made in USA: über die Eroberung des Westens, die zur Bewährungsprobe wird, über Rindertracks, die Durststrecken überwinden müssen, über zimperliche Frauen, die tough, und raue Männer, die weich werden, wenn sie erst mal gebadet und sich rasiert haben, über Außenseiter, die gegen den Mainstream schwimmen. Als das dann alles in Hollywood abgedreht war, kam Sergio Leone, der den klassischen Western manieristisch einfärbte und dessen »Es war einmal« ganz anders anhob. Der Eklektiker Baz Luhrmann kennt die Filmgeschichte und überträgt sie auf den fünften Kontinent – zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und mit dem bombigen Finale des japanischen Angriffs auf Darwin Anfang 1942.
Eine britische Lady, die aussieht, als würde sie niemals schwitzen, bald »Misses Boss« genannt wird und bei Nicole Kidman als Synthese von Grace Kelly und Julie Andrews erscheint, reist aus Old England in die ferne Kolonie. Auf ihrer öden Farm Faraway Down findet sie ihren toten Ehemann, einen betrügerischen Verwalter, einen attraktiven Viehtreiber (Hugh Jackman) und einen kleinen Aborigine, der an Mowgli erinnert, magische Hände und einen Großvater namens King George mit den Zauberkräften der Ureinwohner hat. »Australia« kombiniert Ursprungsmythen und Märchenerzählung mit den Genres Melodram, Musical und Abenteuerfilm. Und über allem wölbt sich der schillernde Regenbogen aus »The Wizard of Oz«.
Seit Ende Dezember
Diane Kurys verfilmt das Leben der Françoise Sagan
// Was waren das – aus unserer Sicht auf die 50er und 60er Jahre – für brave Zeiten, für harmlose Bücher, und was für ein altmodischer Film ist das. Aber schön war es doch und traurig wie ein Song von Billie Holiday oder ein Chanson ihrer französischen Kollegin Barbara – das Leben der Françoise Sagan und der biografische Blick, den die Regisseurin Diane Kurys auf die Schriftstellerin richtet. Nicht anders als »Bonjour Sagan« konnte der Film heißen, anschließend an ihr Debüt, den Bestseller »Bonjour Tristesse« von 1954, da war die Autorin gerade 19 Jahre alt. Sie traf und schuf mit diesem Roman ein Zeitgefühl, in dem Müßiggang, Gleichgültigkeit und gut gepolsterte Verzweiflung, Sentimentalität und Sehnsucht nach einem diffusen Begriff von Freiheit eine (bürgerliche) Generation erfasste, die bald schon wissen sollte und wollte, was sie tat. Man bejubelte die Pariserin als »Radiguet im Rock« oder aber hielt ihr vor, ihre – insgesamt 30 Millionen mal verkauften – Romane mit ihren kostbaren Platitüden hätten »kaum mehr Inhalt als ein Absatz von Balzac«.
Vielleicht war die von Sylvie Testud grandios verkörperte Sagan – diese Sicht entwickelt der Film in entschiedener, klarer Linearität – ihre überzeugendste literarische Erfindung. Eine bessere noch als Cécile, die Heldin aus »Bonjour Tristesse«. Wie das arme reiche Mädchen lebt auch sie, um sich herum eine Entourage aus männlichen wie weiblichen Galanen und Kameraden, unterwegs in Landhäusern, Spielcasinos, vornehmen Hotels und Clubs. Sagan brachte die Empfindung dessen zu Papier, was man immer schon weiß: dass der Mensch allein ist. Sie war eine Glücksritterin, leichtsinnig und hochherzig, eine Expertin der Liebe und eine Spezialistin für Verluste. Sie lebte mit Frauen und mit Männern, heiratete und ließ sich scheiden, gebar einen Sohn, musste mitansehen, wie ihre Gefährtin Peggy Roche starb, sie wurde keine 70 Jahre alt, war abhängig von Alkohol, Tabletten und Kokain – und war ganz und gar unabhängig. Eines dieser monstres sacrés, wie sie nur die französische Kultur hervorbringt, duldet und verehrt. //
ab 1. Januar
Christian Petzolds Liebesfilm »Jerichow«
// Christian Petzolds Filme sind unterwegs auf deutschen Straßen. Sie führen – meistens im Auto – durch die Provinz von Wolfsburg, Hannover oder Brandenburg; selbst Berlin gleicht bei ihm einer Gespenster-Stadt. Das Unterwegs-Sein von Petzolds Männern und Frauen ist eine Suchbewegung. Der Asphalt und die betonierten Fahrbahnen geben ein Gefühl für das Klima eines Landes, das seine Geschichte unter Neubauten verputzt und sich im Osten und Westen der Republik der gleichen kosmetischen Operation unterzogen hat. Und die Natur? Sie ist das Andere, sie birgt Gefahr. »Jerichow« spielt in der Gegend der Prignitz und weiter oben an der Ostsee, an deren Strand und Kliff die Geschichte von drei Menschen endet. Auf fatale Weise.
Thomas, der unehrenhaft entlassene Zeitsoldat, kehrt nach dem Tod der Mutter heim. Sie hinterließ ihm ein altes Haus und eine Menge Schulden. Am Wegrand lernt er Ali, den türkischen Besitzer einer Imbissbuden-Kette kennen, der ihm einen Job als Fahrer und Assistent anbietet. Bald darauf auch die schöne Laura, die der wohlhabende Ali sich »gekauft« hat. Benno Fürmann ist der verlorene Sohn, verschlossen, in sich isoliert, mit einem gespannten, lauernden Phlegma, beklemmend physisch, schwer und geschmeidig, Nina Hoss die kalte, schnöde, unergründliche Melusine des Schmerzes und an den Tatsachen gehärtete Frau, Hilmi Sözer als Ali ein auf naive Weise gerissener, gutherziger und misstrauischer Warmblütler. Jeder lebt oder stirbt allein in seinem Unglück.
Wie im Melodram sehen wir, dass Geld und Glück sich ausschließen. Wie im Melodram beginnen Thomas und Laura hinter dem Rücken von Ali eine Affäre. Einmal trägt Thomas eine Bisswunde an der Hand davon, die Lauras Zähne ihm schlug. Es scheint, als sei die Liebe vergiftet. Jeder Ausweg ist versperrt, jede Möglichkeit zur Veränderung blockiert. Petzold erzählt das unnachahmlich nüchtern und absolut präzise. Alles ist real und alles Metapher. Die elegisch herbe Streichermusik erinnert an Bernard Herrmanns Komposition für Hitchcocks Gespenstersonate »Vertigo«, die Dreiecksgeschichte selbst in ihrer Trostlosigkeit an Vincente Minnellis »Some came running«. //
ab 8. Januar
Schulalltag in Frankreich: »Entre les Murs – Die Klasse«
// Sie heißen Boubacar, Burak, Cherif, Khoumba, Souleymane oder Wei – eine Marie-Claire oder ein Pierre findet sich nicht. Warum dann »immer diese weißen Namen?«, will eine Schülerin wissen, wenn es um Lehrbeispiele im Unterricht geht. Laurent Cantets »Entre les Murs – Die Klasse«, 2008 in Cannes vergoldet, ist der Kommentar zur europäischen Pisa-Studie für das französische Bildungssystem. Der Film sieht zwar aus und fühlt sich an wie eine Dokumentation, so unmittelbar, glaubwürdig und authentisch wird hier vom Schulalltag erzählt, er ist es aber nicht, auch wenn viele seiner Darsteller – Lehrer, Schüler und Eltern – Laien sind. Die Geschichte wurde auf kunstvoll schlichte Weise, wurde aufs Raffinierteste inszeniert: ohne spektakuläre Situationen, ohne sozialpädagogischen Impetus und gerade deshalb von einem Erkenntnis stiftenden Effekt, der den Zuschauer emotional trifft und rational beschäftigt.
Im 20. Arrondissement, einem von Immigranten bewohnten Viertel von Paris und sozialen Brennpunkt, beginnt das Schuljahr. Der Französischlehrer François (François Bégaudeau) lernt seine neue Klasse kennen. Er stößt auf Mauern des Schweigens, der Interesselosigkeit, auf fehlende Konzentration, Frustration, Missmut und Streitsucht. Ganzlangsam ändert sich das Klima, obschon Rückschläge nicht ausbleiben. Ganz erstaunlich, wie sich dank Zähigkeit, Geduld und unermüdlicher Anregung Disziplin durchsetzt, wie sich beobachten lässt, dass anders als bei Lektionen in Grammatik (Konjunktiv Imperfekt) sich Anteilnahme der Schüler regt, wenn es konkret wird und man etwa von je nach kultureller Herkunft unterschiedlichen Schamgefühlen spricht, oder wenn jemand, der es mit den Worten nicht so hat, eine Schulaufgabe erfüllt, indem er seine Biografie anhand von mit dem Handy geknipsten Fotos erzählt.
Ein Film, der Optimismus verbreitet und Bewunderung abnötigt.
ab 15. Januar
»Alles für meinen Vater« von Dror Zahavi
// Am Anfang hält der Wagen mit den drei palästinensischen Männern auf dem Weg nach Tel Aviv in der Wüste. Tarek Raana steigt aus und schaut über die hügelige Landschaft. Es ist, als würde er wie einst Jesus während der 40 Tage des Fastens im Angesicht der kargen majestätischen Natur dem Versucher und dessen höllischen Einflüsterungen begegnen. Wird aber Tarek standhaft bleiben? Wird er nicht den Schalter des Zeitzünders betätigen, um sich als Selbstmordattentäter mitten auf dem Carmel-Markt der israelischen Metropole in die Luft zu sprengen und möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen? Er begründet seine Absicht damit, dass »er von Geburt an nicht mal Träume haben durfte«. Dies macht sich die Terrororganisation zu Nutze, die ihn anstiftet und aufgrund seiner familiären Situation erpresst. Tarek, der Profifußballer werden wollte und in der abgeschotteten West Bank irgendwann keine Möglichkeit mehr zum Training in Nazareth fand, konnte einen Passierschein bekommen dank seines Vaters, der als Gegenleistung mit den israelischen Besatzern kooperierte und seither als Kollaborateur angesehen wird. Tarek soll also etwas gutmachen – den Fleck auf der Familienehre mit Blut abwaschen.
Als ein technischer Defekt die Bombe nicht zünden lässt, ist er für zwei Tage in der für ihn feindlichen Welt Tel Avivs, die auf einmal aber ein Gesicht bekommt. Tarek wird notgedrungen Teil einer kleinen sozialen Einheit, in der das Jüdische weiß Gott kein harmonisches Ganzes bildet oder ausschließlich aus Aggressoren besteht. Da ist der alte, aus Rumänien stammende Elektriker Katz, der für meschugge gilt, seit sein Sohn in der Armee umkam. Da ist seine Frau Zippora, die schon den Gashahn aufgedreht hatte, als Tarek sie aufsucht. Und da ist Keren, die einen Kiosk betreibt und nicht so lebt, wie es die strenggläubigen Orthodoxen verlangen und die sich deshalb von den Ihren getrennt hat. Das Fremde ist bald nicht mehr fremd. Tarek sieht die eigenen Probleme im Spiegel dieser jüdischen Menschen. Es entstehen Momente der Ruhe. Aber die Bombe tickt.
Dror Zahavis sehr eindringlicher, ganz einfach realistischer und doch parabelhafter Film, der im Kern Geschichten von Eltern und Kindern erzählt, schildert durchaus keinen paradiesischen Zustand, in dem auf einmal Löwe und Lamm friedlich koexistierten. Kaum gewonnenes Vertrauen wird erschüttert, als Tareks Blick auf eine Wand fällt, an der die Parole »Tod den Arabern« steht, seine zögernde Beziehung zu Keren macht ihm Angst, und seine Auftraggeber drängen ihn, das Attentat nachzuholen. Ein nahezu unlösbarer Konflikt belastet ihn, bis er am Tag nach Shabbat wieder auf dem Carmel-Markt steht. Es kann kein gutes Ende nehmen. Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können.
ab 22. Januar