Ein Nachmittag mit der Vaterfigur des amerikanischen Avantgardekinos Jonas Mekas in Brooklyn Heights – der Filmer, Anti-Linearist und Tagebuchschreiber ist demnächst im Kölner Museum Ludwig zu sehen.
Wer Jonas Mekas fragt, was er so vor hat in nächster Zeit, sollte Zeit für die Antwort mitbringen. Bei unserem Treffen in Brooklyn Heights, wo er in einem mit Filmrollen, Videokassetten, Computern und Papieren vollgestopften Loft wohnt, erzählt er: »Ich bin nur für 14 Tage weg. Zunächst fahre ich zum Filmfestival nach Lucca, dann bereite ich meine Ausstellung in der Serpentine Gallery in London vor, danach geht es für ein paar Tage nach Marseille – meine Lieblingsstadt, und von dort aus zum Aufbau der Retrospektive im Museum Ludwig und für ein paar Seminare mit jungen Filmemachern nach Köln, weiter nach Luxemburg, und am liebsten würde ich danach noch ein paar Tage durch Litauen reisen und Freunde besuchen, aber ich weiß noch nicht, ob ich Zeit dazu habe.« Jonas Mekas lacht, nimmt kurz einen Schluck Wein und ruft seiner Assistentin, die im Hintergrund Filmmaterial am Computer schneidet, Anweisungen zu. Originalton dröhnt durch den Raum: Gesprächsfetzen aus historischen Fernsehnachrichten. Aufgeregte Fernsehsprecher berichten vom Zusammenbruch der Sowjetunion. »Das wird mein neues Epos; so an die fünf Stunden lang. Lauter Material, das ich direkt aus dem Fernsehen abgefilmt habe. Das muss heute noch fertig werden«, sagt Mekas heiter in den Krach hinein. »Die Arbeit geht nun mal vor. Dafür haben Sie doch sicher Verständnis.« Dann greift er sich das hingehaltene Mikrofon, hält es ganz nah an seinen Mund und fährt fort, geduldig weitere Fragen zu beantworten.
Der Filmemacher, Kurator, Kritiker, Poet und Künstler Jonas Mekas ist 86 Jahre alt, und das Arbeits- und Reisepensum, das er in diesen Wochen absolviert, scheint ihn fit zu halten. Nicht, dass Mekas nicht immer schon viel unterwegs gewesen wäre, doch in letzter Zeit entsteht ein regelrechter Kult um ihn. Mekas wird gerade international wiederentdeckt: Man befasst sich gegenwärtig ebenso im Kölner Museum Ludwig wie demnächst auch in der Londoner Serpentine Gallery mit seinem umfassenden filmischen, aber auch dem theoretischen Werk.
Der gebürtige Litauer Jonas Mekas ist ein Phänomen: als Filmkritiker, unter anderem für die Village Voice und Mitbegründer des »Anthology Film Archive« seit Jahrzehnten fester Bestandteil der New Yorker Szene und Schlüsselfigur des »New American Cinema«, wird er eben von der Kunst neu entdeckt. Kasper König will ihm nun in Köln »einen Kranz binden« und richtet eine umfassende Retrospektive ein. Die Kuratorin der Kölner Schau, Barbara Engelbach, erklärt: »Mekas hat in den letzten Jahren bewiesen, dass er in der Lage ist, seine Dokumentationen noch einmal völlig neu aufzubrechen. Seinen berühmten Film ›Birth of A Nation‹ mit Kurz- und Kürzest-Portraits der wichtigsten neuen Filmemacher der 40er und 50er Jahre hat er für uns zu einer Rauminstallation auf vier Monitoren transformiert.« Während Engelbach in Köln sowohl den Künstler als auch den Vermittler Mekas vorstellt, wird Hans-Ulrich Obrist in der Serpentine Gallery in London ganz neue künstlerische Arbeiten zeigen.
»Mich interessiert es, die Linearität von Erzählungen aufzubrechen«, beschreibt Mekas das, was er gerade tut. »Ich will die Erzählungen dichter und komplexer machen, eine Vielfalt von Bildern erzeugen und sie neu montieren. Beim Film gibt es nur eine Dimension. Es gibt nur den Projektor und die Leinwand, auf die man schaut. Du wirst ein Gefangener deines eigenen Films. Hier kann ich alles neu entscheiden.«
Am Tag zuvor hielt Jonas Mekas einen Vortrag bei einem Film-screening im jüngsten Hotspot der New Yorker Kunstszene, dem neu gegründeten Atelierkomplex »Industry City« im abgelegenen Sunset Park. Er umgibt sich gern mit Studenten, Künstlern und jungen Filmemachern, die ihn wie eine Vaterfigur verehren. »Ich bin wie ein Vampir«, sagt er über sich. »Ich bin fasziniert von Energie und zapfe sie überall um mich herum an.« Er selbst zeigt sich amüsiert über die aktuelle große Nachfrage nach seiner Arbeit und seiner Person – YouTube und Facebook sind voll mit Fan-Seiten über ihn. Was macht Jonas Mekas, wenn er mal eine Pause braucht? »Dann gehe ich mit Freunden einen trinken«, lacht er. Oder er spielt Akkordeon. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass eine Kamera dabei ist. Auf YouTube kann man sich das dann ansehen: »Drunk Jonas Mekas«. Dazu spielt eine Band: Der Meister kennt keine Berührungsängste.
So undogmatisch er sich im Umgang mit seiner Person und dem Experimentieren mit neuen Medien zeigt, so leidenschaftlich nimmt er nach wie vor für das Medium Film Partei, so in der immer noch – fast – täglichen Arbeit im »Anthology Film Archive«, das seit 1970 dem Untergrund-Film eine Heimat bietet. Er erzählt: »Leute kommen aus aller Welt, um bei uns Filme anzuschauen, die sie sonst nirgends sehen können. Ich war 25 Jahre alt, als ich in Wiesbaden das erste Stück Kunst sah: Es war nach dem Krieg, eine auf miserablem Papier gedruckte Reproduktion eines Gemäldes aus der Renaissance, und ich fand es großartig! Mit dem Film ist es ebenso wie mit Büchern: man kann sich inspirieren lassen, aber irgendwann sollte man Geld sparen und nach Florenz fahren und sich die Originale in den Uffizien anschauen. Es ist wichtig, das Original zu sehen. Deswegen gibt es ›Anthology‹ – immer noch!«
Jonas Mekas war von Beginn an mehr als nur ein Enthusiast: ein vom Film Besessener. Es begann, als er, der fünf Jahre während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter und »Displaced Person« verbringen musste, 1949 mit seinem Bruder Adolfas nach New York emigrierte, sich dort Geld lieh, um sich mit einer »Bolex«-Kamera ersten Filmexperimenten zu widmen. Doch schon bald trat Mekas auch als Initiator, Vermittler, Mentor und Filmkritiker in Erscheinung. »Nichts davon war geplant«, erinnert er sich.
»Es schien lediglich notwendig im jeweiligen Moment. Ich wollte nie ein Magazin gründen, aber es gab sonst nichts, also rief ich Film Culture ins Leben. Ich wollte nie Filmkritiken für die Village Voice schreiben, aber irgendjemand musste es ja tun. Ich wollte nie einen Filmclub gründen, aber kein einziger existierte, wo wir die Filme sehen konnten, die uns wichtig waren – also begann ich mit ›Filmmakers Cinémathèque‹ und dann ›Anthology‹. Alles entstand aus purer Notwendigkeit.«
Doch Mekas war in diesen Dekaden auch als Filmer stets mit seiner Kamera mittendrin: So war er dabei, als die Beatniks ihre Lesungen veranstalteten, als Warhols Factory zum Wohnzimmer der Szene wurde, aber auch, als John Lennon und Yoko Ono 1971 einträchtig mit anderen Künstlern auf dem Hudson schipperten. Happenings wie »Fluxus on the Hudson«, aber auch Beobachtungen des Alltags werden in diesen Clips zu philosophischen Welt- und Kulturbetrachtungen: »Song of Central Park« von 1966 beobachtet die Schlittschuhläufer im verschneiten Park, »Mozart+Elvis« zeigt Elvis Presleys letzten Bühnenauftritt im Jahr 1972. High and Low, Geschichte, Kunst, Biografie und Autobiografie finden in Mekas‘ Werk untrennbar zueinander.
Auf seiner Website Jonasmekas.com, die wie ein riesiges Gedächtnis oder eine endlos sich ausdehnende Leinwand zu funktionieren scheint, ist alles festgehalten, und – gegen einen Obolus – herunterzuladen. Und es gibt filmische Formate, die spielerisch der Logik des World Wide Web folgen, so etwa die Arbeit »365 Days Project«. 365 experimentelle, täglich ins Netz gestellte Clips, die alles behandeln, worüber Mekas so nachdenkt im Lauf eines Tages, Ausschnitte aus Gesprächen, Lektüren, persönlichen Aufzeichnungen. Es gibt aber auch immer wieder Rückblicke und Neuordnungen des eigenen Werkes wie »A Visit to the Castle of Marquis de Sade and the Studio of Cezanne«, eine am 6. Januar 2007 eingestellte, herrlich surreale Filmcollage aus dem Jahr 1966. »I am a Diarist – ich bin ein Tagebuchschreiber«, sagt Mekas immer wieder über sich, wenn man ihn nach dem Künstler-Sein fragt: »Ich weiß nicht, ob es Kunst ist, was ich tue. Ich zeichne einfach auf, was mich umgibt, worüber ich nachdenke. Ich bin ein Filmer, kein Filmemacher. Ich mache etwas: Ich filme. Es ist wie Atmen.«
Dann begleitet er mich hinaus, zu einer schmalen Fensterbank im Flur, auf dem ein paar schräge, kümmerliche Pflanzen stehen. »Um die muss ich mich ja auch noch kümmern. Die habe ich alle irgendwann mal auf der Straße gefunden«, sagt er über das Ensemble, das er vorsichtig zu gießen beginnt. Er zeigt euphorisch auf eine erbsengroße, grüne Knolle: »Warten Sie ab, das wird bald eine richtige Zitrone!« //
Ausstellung im Museum Ludwig vom 8. Nov. 2008 bis 1. März 2009, www.museenkoeln.de