// Den allerletzten Aufschub handelte dann noch der Setzer heraus. Noch einmal einen Tag, um das Buch endgültig in Form zu bringen. Der Roman ist ja fertig. Eigentlich. Plötzlich hat auch Tilman Rammstedt wieder 24 Stunden, in denen er streichen und korrigieren, den »Kaiser von China« umbauen und überarbeiten kann. Tun kann, was er in den Wochen zuvor auch Tage und manche Nacht getan hat. Ganz konkret geht es jetzt um einen Satz, mit dem er nicht zufrieden ist. Es ist einer der letzten. Er lautet: »Macht damit, was ihr wollt!« Eigentlich keine schlechte Aufforderung, wenn man bedenkt, dass »Der Kaiser von China« zu dieser Zeit seit fast zwei Monaten in den Buchhandlungen hätte liegen sollen, dass der Literaturbetrieb wegen des Nicht-Erscheinens längst heiß gelaufen ist und dass sich erste Interpreten bereits an die Deutungen der Rauchzeichen gemacht haben. Von einer Schreibblockade war zu lesen. Davon, dass der angeblich von Erschöpfung gezeichnete Rammstedt am Tag vor der Abgabe verzweifelt mit einem Reporter durch den Prenzlauer Berg gehumpelt ist, mit dunkelgrün verschatteten Augenhöhlen.
Tatsächlich aber saß Rammstedt zu dieser Zeit in Berlin, wo er seit zehn Jahren lebt, über seinem Manuskript und nutzte die letzten Stunden. Am Ende, so erinnert er sich noch knapp drei Wochen später in einem Café im Prenzlauer Berg, hatte er dann nicht 24, sondern nur 15. Doch das habe gereicht. Für diesen neuen Satz zum Beispiel. »Ist dir das nicht viel zu eng?« steht da jetzt fast am Ende. In Anbetracht und als Kommentar der Entstehungsgeschichte ist auch das ziemlich gut. Verändert aber hat Rammstedt noch mehr. »Das nutzt man ja doch, diese Zeit«, sagt der 1975 in Bielefeld geborene Schriftsteller, der so wahnsinnig schnell sprechen und lesen kann, ohne dabei gehetzt zu wirken. Dann war »Der Kaiser von China« beendet. Vollendet auch? »Ich glaube, ich werde niemals ein Buch schreiben, von dem ich sage, es ist fertig. Wenn es keine Termine von außen gäbe, würde ich noch immer an meinem ersten sitzen.«
Diese turbulente Entstehung wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn Rammstedt im Juni beim alljährlichen Wettlesen in Klagenfurt nicht mit dem Bachmann-Preis prämiert worden wäre, einem der renommiertesten und prestigeträchtigsten, der für deutschsprachige Literatur zu bekommen ist. Derartig Ausgezeichnete sind allein schon aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie gut beraten, möglichst schnell etwas Vermarktbares folgen zu lassen. Rammstedt aber brachte nach seinem viel versprechenden Auftritt nicht nur der »Kaiser von China« um den Schlaf, sondern auch sein heute elf Monate altes Kind. »Ich hatte unterschätzt, was das mit einem Leben so macht, wie dadurch Arbeitsweisen auf den Kopf gestellt werden«, sagt er.
Nicht zuletzt diesem Kind aber verdanken die Tage der deutschsprachigen Literatur eine der komischsten Lesungen ihrer Geschichte. Eigentlich hätte er überhaupt nicht teilnehmen wollen an dieser »dubiosen Veranstaltung«, sagt Rammstedt rückblickend. Er zögert. Das zu sagen klinge jetzt, nachdem er dort gewonnen hat, natürlich ein bisschen merkwürdig. Unabhängig davon hatte Rammstedt aber auch eine Menge zu verlieren. Sein Erzählband »Erledigungen vor der Feier« und der Roman »Wir bleiben in der Nähe« fanden bei der Kritik überwiegend positive Resonanz. Ein »erstaunliches Debüt«, attestierte Der Spiegel. Rammstedt war also bekannt genug, um sich sehr sorgfältig überlegen zu müssen, ob es seiner Karriere dienlich ist, von Bachmann-Juroren launig abgewatscht zu werden. Andererseits lässt sich das Familienleben mit 25.000 Euro Preisgeld weitaus ruhiger an; und Rammstedt selbst, der sich als Leser seiner Texte nur schwer vorbehaltlos zu überzeugen vermag, war für seine Verhältnisse ziemlich zufrieden mit dem, was er als Romananfang bis dato zu Papier gebracht hatte. So reifte im Januar die Entscheidung: »Jetzt muss man dann auch mal was riskieren«.
Was dann folgte, ist bekannt: Neben dem Hauptpreis bekam Rammstedt auch noch den mit 6.000 Euro dotierten des Publikums dazu. Während seiner Lesung lachte das im Saal versammelte Auditorium zunächst vorsichtig, ja fast ein bisschen überrascht, um am Ende für Klagenfurter Verhältnisse geradezu hemmungslos ausgelassen zu sein. Selbst der ein oder andere Juror hat sich nicht zurückhalten können. Hinterher war die Jury bei dem Versuch zu beobachten, sich selbst und dem Publikum zu beweisen, dass man sich nicht unter Niveau amüsiert habe. Oder das Gegenteil: Virtuos und brillant sei die Geschichte von Keith Stapperpfennig und seinem tyrannischen Großvater ja erzählt worden. Doch habe sie die Wirkung eines Promenadenkonzerts, dem man gerne und beschwingt zugehört habe. Alles in allem, so befand der Jury-Vorsitzende Burkhard Spinnen, sei es aber doch ein Operettenmedley gewesen, bekannte Motive, nichts Neues also.
Tilman Rammstedt aber fühlte sich auch in der Kritik an seinem rasant vorgetragenen Text eher noch bestätigt. »Der Vorsatz war ja: Jetzt lasse ich mal nichts aus und überlege nicht, ob es albern ist oder ob es das vorher schon gab. Für mich wäre es viel schlimmer gewesen, wenn sie den Text langweilig gefunden hätten.« Rammstedt möchte unterhalten. Doch so sagt er es nicht. Rammstedt sagt: »Ich möchte auf eine gewisse Art unterhalten.« Darin schwingt ein wenig Rechtfertigung mit. »Das soll keine Realitätsflucht sein«, ergänzt er aus dem Bedürfnis heraus, nicht mit einem falschen Etikett beklebt zu werden. Schließlich ist die Sache mit der Unterhaltung sehr kompliziert, zumal wenn das Mittel zum Zweck die Komik ist. Je munterer es an der Oberfläche zugeht, desto näher liegt immer der Verdacht, dass jemand in seichten Gewässern spielt. Jetzt, wo der Roman endlich vorliegt, werden sich Lobredner und Kritiker wohl gleichermaßen bestätigt sehen. Dabei scheint »Der Kaiser von China« auf geradezu irrwitzig ironische Weise all jenen zu antworten, die die vermeintliche Nabelschau deutscher Schriftsteller beklagen und diese auffordern, sie müssten mal wieder die Welt nach existenzieller Dringlichkeit absuchen, statt immer nur am heimischen Schreibtisch zu sitzen. Rammstedts Ich-Erzähler Keith verbringt seine Tage nicht am, sondern unter dem Schreibtisch, auf dessen Unterseite er sich einen Sternenhimmel gezeichnet hat. Dort wartet er darauf, dass die zwei Wochen, die er mit seinem Großvater auf China-Reise hätte gehen sollen, vorbei sind – aus Angst, von seinen Geschwistern gesehen zu werden. Denn Keith hat das von den Geschwistern gesammelte Urlaubsgeld durchgebracht und den Opa allein auf große Fahrt geschickt. Der kommt bis zum Westerwald, wo er überraschend stirbt. Nun muss schnell ein Alibi her, das den Geschwistern glauben machen kann, Keith wäre tatsächlich mit dem Großvater unterwegs gewesen. Keith beginnt, Briefe zu schreiben über ein Land, das er nie gesehen hat. Er bastelt sich eine Lügengeschichte zusammen, erfindet eine Welt, in der es eine ganz anrührende Erklärung dafür gibt, warum der kriegsversehrte Opa nur einen Arm hat. Er berichtet von den Zahnhygiene-Werbespots, mit denen das chinesische Fernsehen seine Zuschauer zusendet, und er erzählt von der ersten und einzigen großen Liebe des Großvaters, der übergewichtigen Gewichtheberin Lian, dem »Massiv von Macau«.
»Alles, was in den Schilderungen Chinas der Wahrheit entsprechen mag, entstammt dem Reiseführer ›Lonely Planet China‹« heißt es am Ende von »Der Kaiser von China«. Rammstedt ist noch nie in China gewesen. Doch eben das hat ihm die Arbeit erleichtert. »Man ist absolut befreit von irgendwelchen Eindrücken, denen man dann gerecht werden müsste«, erzählt er. Warum aber ausgerechnet China? »China ist ein Land, das für alles Mögliche stehen kann. Es ist das Fremde, das Andere. Insofern bot es sich sehr an, darüber eine Lügengeschichte zu erzählen.« Erschlossen hat sich Rammstedt – Sohn Otthein Rammstedts, ein Luhmann-Schüler und Professor Emeritus für Soziologie an der Universität Bielefeld – ganz nebenbei auch einen überraschenden Ausblick auf eine mögliche neue Erzählperspektive. Wie schon in den vorhergehenden Büchern, ist es auch in »Der Kaiser von China« ein Ich-Erzähler, der lakonisch und souverän rhythmisiert den Eindruck beherrschter Aufgeregtheit hinterlässt. Diesen Rammstedt-Ton, eine seltsame Gleichzeitigkeit von erstaunter Unter- und aufgekratzter Überspanntheit, stimmen die Erzähler in nahezu allen Geschichten an. Doch Rammstedt hat lange daran gearbeitet, diesen Sound, den er nicht zuletzt auch auf der von ihm 2001 mitbegründeten Berliner Lesebühne »Visch & Ferse« ausprobiert hat, im »Kaiser von China« von allen Psychologisierungen zu befreien. »Ich habe lange gedacht, dass ich immer aus dieser Ich-Perspektive heraus erzählen würde. Denn ich mag diese Schachtelsätze, diese zerfransenden Gedanken, das Schreiben aus einer Dringlichkeit heraus.«
Mit dem »Kaiser von China« hat sich Rammstedt vorsichtig an einen auktorialen Erzählgestus herangetastet. Vielleicht wird diese schleichende Distanzierung vom Ich auch dazu führen, dass man ihn nicht mehr für eine vermeintlich entscheidungsschwache »Generation Zufall« in Haftung nimmt, die mit ihrem Möglichkeitssinn das Realitätsprinzip aus den Angeln zu heben versucht. In diese Schublade wurde Rammstedt hier und da einsortiert, nachdem »Wir bleiben in der Nähe« erschienen war. Die Geschichte von Katharina, Felix und Konrad, die in einem Ferienhaus in der Bretagne herausfinden wollen, worum es geht in ihrem Leben, und am Ende in eine unabsehbare Offenheit aufbrechen. Eine Flucht vor dem Alltag ist das. Während Keith sich einfach wegduckt unter dem selbst gemalten Sternenhimmel und am Ende mitteilt, er bleibe noch ein bisschen in diesem imaginären großen Land, das seiner Phantasie keine Grenzen setzt. Denn es ist ihm zu eng. Im Leben? Nein. Unter dem Schreibtisch. //
Tilman Rammstedt, Der Kaiser von China, DuMont Verlag, Köln 2008, 190 Seiten, 17,90 Euro