// Er muss ohne Freispruch auskommen. Orest bleibt ein Getriebener, das ist A und O der Aufführung, damit schließt Regisseur Roger Vontobel Anfang und Ende zusammen. Wie von Furien gehetzt, strampelt sich zunächst Matthias Eberle als Muttermörder ab, stolpert und strauchelt. Sein Tanzen zu brutalem Hardrock ist wie Rennen. Nur, dass er nicht vom Fleck kommt. Mit diesem Lauf-um-dein-Leben beginnt im Essener Grillo Theater die dreiteilige »Orestie« des Aischylos in Peter Steins Übersetzung. Die Inszenierung konzentriert sich auf den Letzten des mörderischen Geschlechts der Atriden, denen das hellenische Licht der Akropolis noch nicht die Düsternis von Mykene erhellt, wo Blutrache statt Rechtsprechung herrscht. Orest ist sowohl angry young man, der sich im Schlamm wälzt, das Beil schwingt und in seiner Willensschwäche verzweifelt »frei« und bindungslos sein will, als auch sterbensmüder Spross einer lost generation. Und irgendwie auch Beatnik und rebel with a cause, jedenfalls kein typischer Vertreter der angepassten, strebsamen, zielorientierten heutigen Jugend Shell-Studien. Orest schaut heimwärts in die wilden 60er oder 70er Jahre, wo es noch ums Ganze, um Selbstverwirklichung und Schluss mit Fremdbestimmung geht, wenn ihm wie der Chor in Haltung eines Lehrer-Kollegiums den Dreiklang »Tun Leiden Lernen« einhämmert. So wie er überhaupt Zuschauer seiner Geschichte und zugleich deren Akteur ist. Später verhandelt ein mit Allongeperücken veralberter Gerichtshof seinen Fall: Von diesen wie aus einem Splatter-Movie besudelten Nackten und Toten darf man keinen athenisch weisen Schiedsspruch erwarten. Es sind Egoisten, was interessiert die Welt von Morgen? Da geht ein Riss durch die Gesellschaft.
Vontobel setzt einen Rahmen, der den Mythos indirekt einfasst und eine vergangene Geschichte im Präsens erzählt. Ihm genügen auf Claudia Rohners kahler Bühne sechs Darsteller: die Hauptfiguren, die zugleich Chor, Götter und Erinnyen bilden. Der Mensch bleibt unter sich. Aus dem kollektiven Bewusstsein schält sich – recht kleinteilig und in der ersten Hälfte auch mühsam – individuelles Geschick. Die zeitgemäß verdichtete (aber auch geschmälerte) Transformation bedient sich modisch-aktueller Zeichen und ästhetischer Codes, die als Mittel ziemlich ausgereizt sind: Ansprachen vor dem Mikro, Politrhetorik sowie Verweise auf Massenhysterie und Folteropfer bei Agamemnons Heimkehr von Troja; eine schon in Thalheimers Berliner »Orestie« exzessiv betriebene glitschige Blutorgie, dekorative Regengüsse vom Bühnenhimmel, popmusikalische Schmerzens-Soli der Kassandra von Scout Niblett. Im Grillo bleibt man Jugend-affin.
Es mag Vontobels Konzept entsprechen, dass der stärkste Eindruck von den Geschwistern Orest und Elektra (Barbara Hirt) ausgeht, den Schmuddelkindern und rebellischen Anti-Körpern, ihrem heftig emotionalen Aufruhr und ihrer intimen, intensiven Leidens-Wut, während die Erwachse- nen (Agamemnon, Klytaimnestra, Aigisth) ziemlich alt aussehen. Die 30-jährigen Theatermacher sind halt gern melancholisch-sentimental mit sich selbst. Orest – Zeitdiagnose: Verunsicherung! – ist auf der Suche »vielleicht zu mir selbst«. Sind wir nicht alle ein bisschen Orest? // AWI