// Der Untergang des römischen Imperiums hat seit jeher auf nachdenkliche Köpfe eine nicht geringere Faszination ausgeübt als der Untergang von Atlantis auf Phantasten – gerade weil es sich bei ersterem um eine historisch unbestreitbare Tatsache handelt. Denn wie konnte es möglich sein, dass ein militärisch, technisch, ökonomisch, organisatorisch überlegenes Reich, das modernste Staatswesen der damaligen Welt, von ein paar Horden unzivilisierter Barbaren ausgelöscht wurde?
Doch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut; und es ging auch nicht an einem Tag unter. Es wurde im strengen Sinne nicht einmal erobert, geschweige zerstört. Das Reich, das der Stadtstaat Rom während eines Jahrtausends um sich herum errichtet hatte – die Römer betrachteten dieses Imperium als Ausweitung ihrer Civitas, als riesig vergrößerte Stadt mit dem Limes als äußerste Stadtmauer – dieses Reich wurde nicht eigentlich von außen und von Fremden überrannt, sondern von innen, von Assimilierten übernommen. Die römische Spätantike war keine Zeit des Zerfalls, sondern eine der Transformation, hervorgerufen durch neue ethnische, kulturelle und religiöse Elemente. Von den sie umgebenden »Barbaren« – den »Stammlern«, den nicht Latein oder Griechisch Sprechenden – hatten die Römer im Laufe der Zeit immer mehr ins Reich integriert: Ihre Eliten bekleideten hohe militärische Ränge, ganze Volksgruppen durften im Reichsgebiet siedeln. Diese Politik der ethnischen Offenheit war uralte römische Tradition; und zur kontrollierten Zuwanderung konnte es keine Alternative geben, zu lang waren die Grenzen des Imperiums geworden, zu stark und aggressiv die außerhalb dieser Grenzen Siedelnden, zu groß war der Bedarf an Soldaten. Am Ende – wir schreiben das späte 5. nachchristliche Jahrhundert – führten diese Allochthonen, salopp gesagt, das römische Reich einfach weiter. Wenn auch unter sehr veränderten Bedingungen. Zwar wurde am 28. August 476 der letzte (west-)römische Kaiser, Romulus Augustulus, von dem Skiren Odoaker entthront, doch betrachtete sich der Putschist selbst als einen »Germanen in römischen Diensten« und seine Herrschaft als Teil des Imperium Romanum. Und das Rechtsinstitut des römischen Kaisers sowie die Idee des Imperiums überdauerten und waren prägend noch für das Selbstverständnis der Herrscher des Mittelalters, die sich – Translatio Imperii – als Erben Roms verstanden.
Dies ist, in aller Knappheit, der Roman vom »Kampf um Rom«, den uns eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn erzählt – ein Roman, der, anders als Felix Dahns berühmt-berüchtigtes Buch von 1876, auf neuesten archäologischen und historischen Forschungen fußt, eine Ausstellung, die die ambitionierteste und umfangreichste seit je zu diesem Thema ist und in Zusammenarbeit mit dem Palazzo Grassi in Venedig entstand, wo sie, in anderer Form, zuerst zu sehen war. Wer Licht in das dunkle und verworrene Kapitel der Völkerwanderungszeit bekommen, wer begreifen will, wie die Ordnung der Antike sich auflösen und aus ihren Trümmern eine neue Ordnung, die des Mittelalters und mit ihr die Anfänge des neuzeitlichen Europas, entstehen konnten – der findet hier fast vollständige Aufklärung.
Mit welchen Worten aber erzählt »Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit der Völkerwanderung« diese Geschichte? Fast nur mit den Worten von Grabungsfunden: Waffen, Helmen, Pferdegeschirren, Schmuckstücken (vor allem Fibeln), Essgeschirren, Kultobjekten, Statussymbolen auf Seiten der Barbaren; mit (Kaiser-)Büsten auf Seiten der Römer, insgesamt mit etwa tausend Exponaten aus ganz Europa. Artefakte dieser Art aber reden in einer nur der Wissenschaft verständlichen Sprache. Daher sei nicht nur der Besuch dieser Ausstellung wärmstens empfohlen, sondern ganz besonders auch das Studium des Katalogs. Der Anschauungsgenuss allein, auch wenn er bei manchen Stücken außerordentlich hoch ist, reicht in diesem Fall noch weniger als sonst.
Wie bei den Ausstellungen der Bundeskunsthalle üblich, empfängt den Besucher eine spezielle Auftaktinszenierung: Der Büste des Feld- herrn Claudius Germanicus (dessen Tochter Agrippina in Köln geboren wurde und der Stadt ihren Namen gab) mit seinen feinsinnigen Gesichtszügen ist die Büste eines Barbaren beigesellt: mächtiger Schädel, üppiger Vollbart, das lange Haar zum sogenannten Sueben-Knoten seitlich verknüpft. Doch diese Konfrontation zwischen zivilisiert und wild gilt nur für den ersten Teil der Schau. Er bezieht sich auf die Epoche von etwa der Zeitenwende bis in die Mitte des 4. Jahrhunderts, als die bis dahin erfolgreiche Expansion des römischen Reichs an Rhein und Donau zum Stehen kommt, als immer wieder temporär erstarkende Barbarenverbände ins Imperium einbre- chen, um dessen materiellen und menschlichen Reichtum zu erbeuten: Waffen, Metalle, Preziosen sowie Handwerker, die solche Kostbarkeiten herstellen können. So sind dünne, goldene Votivbleche aus dem 2. bis 3. Jahrhundert zu sehen, die germanische Krieger aus einem Tempel am Nordrand der Pyrenäen geraubt und bei der Rückreise im Rhein verloren haben. Und ein Siegesaltar kündet davon, dass allerhand Bürger Roms (entführte Spezialisten?) aus den Händen der Barbaren befreit worden seien.
Solche kriegerischen, aber auch die friedlichen Kontakte (durch Handel und Hilfsdienste) bedeuteten für die Germanen einen kulturtechnischen Sprung nach vorn; aber sie markierten auch den Beginn eines neuen Wertekanons, den die dingliche und organisatorische Strahlkraft Roms anführte, einen, der nicht mehr verschwand. Barbarische Fürsten (oder Warlords, oft weiß niemand Namen und Bedeutung) schmücken sich jetzt mit denselben Insignien und Luxusgegenständen wie die Würdenträger des Imperiums, wie Grabbeigaben belegen – vornehmlich aus Silber und Gold. Das glänzt in den Vitrinen wie frisch geschmiedet. Doch die Macht dieser Sippenlenker ist temporär, der Zusammenhalt größerer Sozialverbände schwach, sie leben weiterhin in Wirtschaftsformen, die nicht einmal zur Überschussproduktion fähig sind, weit entfernt von der Stadtkultur des Imperiums.
»…verbreiteten schreckliche Gerüchte die Nachricht, die Völker des Nordens verursachten neue und ungewöhnlich große Bewegungen: Über das ganze Gebiet von den Markomannen und Quaden bis zum Schwarzen Meer sei eine Menge von unbekannten Barbarenvölkern mit unvorhergesehener Gewalt aus ihren Wohnsitzen verdrängt worden und ziehe im Donaugebiet in einzelnen Banden mit ihren Familien umher.« So klagte der römische Historiker Ammianus Marcellinus in seiner Res gestae (390) über die Zeit um 376. Die heutige Historik sieht dies etwas differenzierter. Die Markomannenkriege (166–180 n. Chr.), ausgelöst durch den Einfall von 6.000 Langobarden und Obiern nach Pannonien, werden zwar heute als die Vorboten der Völkerwanderung angesehen, doch zunächst von Rom unter Marc Aurel siegreich bestritten – eine wunderbare Goldbüste des Philosophen-Kaisers aus dem Jahr 180 scheint die ewige Überlegenheit der römischen Kultur zu dokumentieren. Was der Stoiker Marc Aurel vielleicht ahnte: Sein Sieg war nur scheinbar. Ein altes Gleichgewicht zwischen Imperium und Barbaricum ist ins Rutschen gekommen, die Trennlinie beginnt, sich in Wirbel aufzulösen. Als Folge der Markomannenkriege bilden sich größere und beständigere germanische Sippen aus, die zu höherem Druck auf Rom imstande sind. Eine Zeit der Unruhe beginnt, doch das Imperium ist lernfähig: Ab 293 soll ein neues Regentschaftssystem mit zwei Senior- und zwei Junior-Kaisern, die sogenannte Tetrarchie, den gewaltigen Herrschaftsbereich regierbarer machen, vier Hauptstädte werden gegründet: Nicomedia, Thessaloniki, Mailand und Trier. Wenn man so will, auch dies der Anfang vom Untergang Roms. Vielleicht entscheidender: der nach-tetrarchische Kaiser Konstantin (reg. 306–337) kann den scheinbar endgültigen Frieden an Roms Nord- und Ostgrenzen nur dadurch wiederherstellen, dass er erstmals starke germanische Kriegerverbände in seine Armee aufnimmt (die da- durch auf etwa 600.000 Mann anschwillt) sowie ganzen Völkern Siedlungsgebiete im Reichsinneren zuweist: 300.000 Sarmaten etwa wandern nach Thrakien, Skythien, Makedonien und Italien ein. Und in einer römischen Villa in Trier dürfen Germanenköpfe repräsentative Hermenpfeiler zieren – der Feind ist integriert.
Dann brechen im Jahre 375 die Hunnen in den nördlichen Schwarzmeerraum ein, auf der Flucht vor ihnen suchen die Goten Zuflucht im Kaiserreich, ziehen Vandalen, Alanen und Sueben nach Westen bis nach Spanien und überqueren am 31. Dezember 406 den zugefrorenen Rhein und damit die römische Grenze: die Völkerwanderung beginnt. (Wie gewaltig sie war, zeigt eine sehr sehenswerte Animation auf der Website des Museums.) Weil ihnen zur Abwehr die Kraft fehlt, versuchen die Römer des Ansturms mit Verträgen Herr zu werden: Man erklärt die Invasoren einfach zu Verbündeten. Goten übernehmen einen Teil des Kaiserreichs, werden Teil des Hofes in Konstantinopel. Doch dieses Apeasement garantiert nicht den Frieden: 410 plündert der Gote Alarich Rom. Als der Hunnenherrscher Attila 453 stirbt, zerbricht allerdings sein Reich, von dessen pannonischem Teil nun die Gepiden Besitz ergreifen.
Die Nekropole von Apahida aus dem 5. Jahrhundert in Rumänien offenbarte bei ihrer Entdeckung 1889 Schätze von unglaublicher Schön- heit: Ringe, Schnallen, Fibeln, Glöckchen, Ap- plikationen: Miniaturmosaike aus goldgefassten Granatsteinen, die aus Indien stammen und mit größter Präzision wohl im oströmischen Raum geschliffen wurden. Die Preziosen, die, wie sie da so liegen, ihrer Stilistik nach auch aus dem frühen 20. Jahrhundert stammen könnten, sind, liest man, Ausdruck enger diplomatischer Beziehungen zwischen (Ost-)Rom und (wahrscheinlich) eben jenem Gepiden-Reich. Mit ihm (sowie mit den neuen Reichen der Sueben, Skiren, Heruler) haben Ost- und Westrom Verträge abgeschlossen, um sie friedlich zu halten und für Befriedungsaktionen zu gewinnen. Verträge, das heißt vor allem Gold (33 Kilogramm jährlich pro Herrscher) und diplomatische Geschenke aus Rom. Was immer noch preiswerter ist als Krieg. Die wahren Kosten allerdings sind anderer Art. Die fremden Krie-ger und ihre Angehörigen übernehmen immer mehr vom römischen Know how: Rechtssystem, Sprache und das Christentum, das seit 391 offizielle römische Staatsreligion ist. Allerdings hängen die meisten dieser neuen Herrscher im alten Staatsgebiet der arianischen Variante des Christusglaubens an. Und sie nutzen ihre Macht oft genug dazu, sich untereinander zu bekämpfen, statt Statthalter des Imperiums zu sein. Im 6. und 7. Jahrhundert schließlich verblasst das Bild des tausendjährigen Imperium Romanum bis zur Unkenntlichkeit: Die Unterscheidungsmerkmale zwischen Römern und Barbaren werden zunehmend schwächer, zumal nun die meisten der neuen Herrscher so katholisch sind wie die Römer. Doch das Reich ist, da wo die germanischen Stämme es übernommen haben, ein anderes: Die Städte haben ihre Rolle als Mittelpunkte des sozialen und geistigen Lebens verloren, Dörfer und Klöster sind die neuen Zentren. Eine Aristokratie ist entstanden, deren Macht auf gewaltigem Grundbesitz beruht und die – so ganz anders als in Rom – ihre Legitimation aus ihrem kriegeri-schen Habitus bezieht. Neben ihr wächst eine zweite und völlig neue Säule der Macht heran: der Klerus.
Auf welche Weise das Christentum den »Untergang« Roms mit verursachte, das allerdings stellt in Bonn nur einen kurzen, letzten Abspann dar. Stoff für eine weitere Ausstellung über den Zeitenwechsel. //
Bis 7. Dez. 2008. Tel.: 0228/9171-0. www.kah-bonn.de. Katalog Hirmer-Verlag, 360 S., 29 Euro.
Bis zum 11. Jan. 2009 ist im Rheinischen Landesmuseum Bonn die thematisch verwandte Ausstellung »Die Langobarden« zu sehen. www.rlmb.lvr.de