// Dietrich Hilsdorf hat etwas von einem Boxer: Tänzelnd scheint er immer auf dem Sprung zu sein, weicht blitzschnell aus, um dann überraschend zum Angriff überzugehen. Man kriegt ihn schwer zu packen. Im Gespräch ist er von wacher, lauernder Präsenz. Keiner, der wortreich Anekdoten ausbreitet, sich in ästhetische Details seiner Arbeit oder etwa gar in theoretische Debatten verliert. Er formuliert knapp, mit scharfer Zunge und mit Lust am Widerspruch.
Auf der Probe steht er meistens fast reglos, ist ganz Auge und Ohr. Die Anweisungen kommen mit gedämpfter Stimme, konzentriert und beherrscht. Er ist freundlich und doch spürt man deutlich, dass er auch anders kann. Anders konnte, denn früher war Hilsdorf nicht nur der Abonnentenschreck, dem gelegentlich Prozesse wegen Blasphemie angedroht wurden. Er galt auch in der Branche als schwierig. Legendär seine lautstarken Wutausbrüche, seine scharfen Konflikte mit Dirigenten, der Zoff mit den Chören, die Kräche mit Intendanten, die Rauswürfe. Als er an der Rheinoper bei Puccinis Triptychon »Il Trittico« die übliche Reihenfolge der Piècen umdrehte, bedurfte es eines Intendanten-Machtworts, um den Streit mit GMD John Fiore zu schlichten und Hilsdorfs Konzept durchzusetzen. Fiore rächte sich. Bei der Wiederaufnahme drehte er die Serie wieder zurück. Heute ist Hilsdorf darob amüsiert, früher wäre er vor den Kadi gezogen.
Tänzerisch in der Schrittfolge vorwärts und zurück ist auch seine Beziehung zum Publikum, eine Hassliebe, die Funken schlägt, obwohl der Regisseur längst zu den Akzeptierten gehört und überwiegend rauschende Erfolge feiert. Virtuos beherrscht Hilsdorf das Spiel mit Erwartungen und schafft es inzwischen, brisante Kritik so theatersinnlich und elegant zu servieren, dass selbst das konservative Opernpublikum sich hinreißen lässt. »Anschärfen« nennt er sein Tun lakonisch, und outet sein Spiel mit dem Zuschauer als lustvolle Täuschung: »Sie kriegen von uns historische Kostüme, das besänftigt.«
Heute schickt Hilsdorf den Wolf im Schafspelz auf die Bühne. Früher jagte er da, wo ein brav gekämmtes Schaf versprochen war, das gesträubte Raubtier auf die offene Szene. Damals war unverhüllte Provokation Programm. »Entspannung durch Umspannung« lautete die griffige Formel, die er denen entgegenhielt, die an seinem Theater den erbauend lullenden Erholungswert vermissten. Auch in diesem ketzerischen Satz steckt viel von den Widersprüchen des als wilden Mann Gefürchteten, des so genannten »Regie-Berserkers«.
Schon immer wollte Dietrich Hilsdorf provozieren und unterhalten, wollte verstören und verkaufen, also ein volles Haus haben. Opulenz und lustvoll gesetzte theatralische Effekte waren ihm nie fremd; karges, unterkühltes Theater für Spezialisten ist seine Sache nicht. Regelmäßig ruft er die Theaterkassen an, auf deren Spielplan seine Inszenierungen stehen und fragt die Verkaufszahlen ab. Die entsprechenden Telefonnummern hat er gespeichert. »Ideal wäre, wenn wir jeden Abend 100 Leute nachhause schicken müssten«, peilt er vor der Essener Premiere von Händels »Semele« seine Hoffnungen an.
Die Spannungsformel würde er nach wie vor unterschreiben, aber seine Mittel sind subtiler geworden. Er wolle »die Leute nicht mehr in den Hintern treten, ich will sie verführen!« Verführung ist die wahre Gewalt, wie wir aus Lessings »Emilia Galotti« wissen. Dieses ›sowohl als auch‹ gelang allerdings auch schon in den Sturm-Phasen, wenn auch oft über den Umweg des Skandals. Etwa bei seinem vehementen Essener »Don Carlos« von 1988, der nach einer heftigen Inkubationszeit zur Kult-Aufführung wurde. Volkes Zorn entzündete sich an der aus der Handlung heraus gelösten Autodafé-Szene, die zur obszönen Party-Ergötzung mit pendelndem katholischen Weihrauchkessel und Rauschgoldengel wurde.
Mittlerweile kommt dergleichen nur noch gelegentlich vor, zuletzt bei Webers »Freischütz« in Wiesbaden, der deutschen Wald auf der Bühne vermissen ließ und ersetzte durch zerschossene Villen-Architektur am »Ende des tausendjährigen Krieges« und Endzeit-Anarchie mit Kleists markiger Ode »An die Kinder Germanias«. »Da wurde mal wieder so richtig gebrüllt«, amüsiert er sich. Die regelmäßig entfachten Buh-Orkane nahm er wie Ovationen entgegen, setzte den Clinch noch beim Schlussapplaus fort, wenn er mit rudernden Armen ein Crescendo hervorkitzelte. Heute mischt er sich lieber unauffällig in die hinteren Statistenreihen und ziert sich, an die Rampe zu kommen.
Seine insgesamt über 120 Regiearbeiten sind überwiegend in NRW entstanden und haben in der Region gewiss Theatergeschichte geschrieben. Legendär ist der Gelsenkirchener Mozart-Zyklus in seiner szenischen Kammerspiel-Präzision. Spektakulär waren die Essener Verdi-Inszenierungen, die er zuletzt um eine frappierende, psychoanalytisch inspirierte Deutung der als problematisch geltenden »La forza del destino« ergänzte. In Bonn sorgte er mit bildmächtigen Barock-Oratorien für einen Händel-Boom, in Düsseldorf machte das Raffinement einer Thriller-Dekonstruktion von Puccinis »Tosca« Furore.
Der ganz große Erfolg schien ihm jedoch wie durch Zauberwort versagt, in die internationale Liga stieß er nicht vor. Doch in einem Alter, da Regiekollegen schon ausgebrannt sind oder sich im Selbstzitat erschöpfen, nimmt Hilsdorf noch einmal Anlauf. Im vergangenen November bekam er den »Faust«-Theaterpreis des Bühnenvereins für eine Inszenierung am Chemnitzer Theater. Der designierte Leipziger Oberspielleiter Peter Konwitschny (63!) bezeichnete Hilsdorf (59!) jüngst als einen der »großen Alten«, die er an sein Haus einladen wolle. Uwe-Eric Laufenberg hat mit ihm in Köln einiges vor, wenn er dort die Oper übernimmt. Und in der nächsten Saison inszeniert er erstmals Wagner: »Tristan« in Wiesbaden und die »Walküre« am Aalto. Es würde ein »Blind Date«, argwöhnt der bisher bekennende Wagner-Abstinenzler, dessen Fixsterne Mozart, Verdi und Puccini sind. Er möge »keine One-Night-Stands« erklärt er sein obsessives Kreisen um dieses kompositorische Trio.
Den jetzt gereiften Erfolg hält Hilsdorf für folgerichtig. Er sei »besser geworden«, sagt er mit leiser Selbstironie und ergänzt nüchtern: »Ich beherrsche das Handwerk.« Ist er deshalb auch brav geworden? Die Frage stellt sich für ihn nicht, denn er sieht nur einen Wandel in der Methode, nicht in der Haltung. Das grelle Brüskieren, gezielte Verstören und Verschrecken interessieren ihn nicht mehr.
Der 1948 in Darmstadt geborene Internatszögling und Chorknabe Hilsdorf, selbst ausgebildeter Schauspieler, ist einen weiten Weg gegangen: Regieassistent bei Palitzsch und Neuenfels, für 17 Inszenierungen in Ulm engagiert, Frankfurter Hausregisseur neben Schleef und Gruner, unter Günther Rühles Intendanz Regisseur von Fassbinders durch Proteste verhindertem Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« über einen »reichen Juden« und Bauspekulanten. Inzwischen irritiert er eher durch einen Flirt mit der kommerziellen Musical-Industrie, wie mit der mehrfachen Auflage von »Jekyll & Hyde«, zuletzt im Kölner Musical Dome, zu sehen war, und durch Operettenabende, die ihren moussierenden Esprit daraus beziehen, dass er sie ernst nimmt: »Wir wollten keine Sekunde witzig sein.«
Was hat sich geändert seit seinen ersten Dortmunder Regiearbeiten fürs Sprechtheater? Vor allem der immer noch zunehmende Hang zu Konkretion und Genauigkeit. Hilsdorf ist kein Theatermacher, der ausdünnt, abstrahiert und Stücke ins Vakuum stellt. Im Gegenteil, das historische Umfeld der Entstehungszeit eines Werks, Stoffgeschichte und Herkunft des Librettos werden gründlich erforscht, nicht als gegeben hingenommen. Immer liest er zuerst den Urtext, vergleicht dann mit dem Libretto, verfolgt Spuren und Verschiebungen. Der damalige Stand der (Theater)-Technik fasziniert ihn, angrenzende Künste regen an, liefern Bilder, Stimmungen, Subtexte. Doch geht es keineswegs um Nachbildung, um braves Eins-zu-Eins-Rekonstruieren, sondern um die Frage: »Wie modern kann man in historischen Räumen sein?« Die Vorbereitungen laufen penibel. Genauigkeit als Voraussetzung glückender Arbeit. »Wenn wir schludern, fühlen wir uns richtig schlecht.«
Selbstkritisch ist er ohnehin, er steht nicht hinter jeder Arbeit gleichermaßen. Mit der Essener »Aida«, bejubelt und immer noch im Spielplan, war er unzufrieden. »Wir waren froh, dass es wenigstens einen saftigen Skandal gab. Das hat abgelenkt davon, dass der Rest dünn war.« Aufreger seien ja schnell hergestellt: »Sex und Religion funktioniert immer noch« – das findet er langweilig. Man müsse überrascht, in die Sache hineingezogen werden, das gelinge auch durch Konkretion. Nicht Materialismus, sondern Realismus.
Dass Händels späte Oratorien mit ihren dramatischen Sujets und mächtigen Chören die besseren Opern sind, hatte Hilsdorf schon wiederholt an der Bonner Oper bewiesen. Nun ist er mit dem Brockmeister ans Aalto weiter gezogen und übertrifft sich mit »Semele« selbst, die Jos van Veldhoven mit dem historisch informierten Orchester dirigiert. »Eine lieblose Komödie« untertitelt er das Werk und behauptet frech, es sei in Wahrheit »Händels einzige Operette«. Doch die Historie stützt seine These, hatte doch der Textdichter des »Messias« sich seinerzeit über Händels Vertonung von Williams Congreves Libretto empört: »No oratorio, but a bawdy opera!«, eine obszöne Oper. Congreve war in der Tat Komödienautor; zudem ist immerhin Friedrich Schiller Kronzeuge der Behauptung, verdichtete der doch in jungen Jahren den Stoff zu »Semele – Eine lyrische Operette in zwo Szenen«.
Trotz des dramatischen Sujets sieht Hilsdorf die galante mythologische Ehebruchgeschichte im Mittelpunkt, wahrt schillernd und kippelnd die heikle Balance zwischen Tragödie und Komödie. Die Rache von Jupiters Göttergattin Juno an ihrer irdischen Nebenbuhlerin Semele ist zwar grausam, doch das Spiel um die Flüchtigkeit der Liebe, Eitelkeit und Intrige vor allem ein geistreiches Konversationsstück, wenngleich mit tödlichem Ausgang.
In Dieter Richters großbürgerlichem Salon, assistiert von Renate Schnitzers prächtigen Kostümen, zieht Hilsdorf alle Register, bewegt virtuos den Chor, mit dem er unzählige Geschichten am Rande erzählt und führt die Protagonisten mit souveräner Präzision, als wär’s ein Stück von Tschechow. Anregungen für die üppigen Genreszenen holte er sich bei
William Hogarths drastischen Bilderfolgen und aus Samuel Pepys deftigen Londoner Tagebüchern. Ein Abend, gewürzt mit Ironie und kaustischem Witz, knisternd vor diskreter Erotik. Jupiter (betörend lyrisch: Uwe Stickert) ist ein feminin angehauchter Lüstling, Semele bei der stimmlich makellos leuchtenden Olga Pasychnik selbstbewusst in ihrem Wunsch nach Ebenbürtigkeit.
Hilsdorf erklimmt gewissermaßen den Olymp seiner Möglichkeiten. //