»Es muss auch eine gesellschaftliche Utopie geben, die auf gegenseitiger Interesselosigkeit basiert!« – »Hört doch mal zu!« – »Das muss doch endlich mal nicht als Verlust zu sagen sein, dass ich hier versuche, alle Erfahrung loszuwerden.« – »Der Verzicht auf Erfahrung ist eine legitime Verteidigung.« – »Es gibt diesen Plan von Gemeinsamkeiten, der dauernd Unterschiede produziert.« – »Was mache ich denn jetzt mit meinem wertlosen Schulabschluss?«
Jeder, der diesen Dialogton schon einmal gehört hat, diesen Verbalverkehrslärm einander rammender Theoriekleinlaster, der weiß sofort: Das ist der Pollesch-Sound! In der Tat, René Pollesch, der Entdecker des Poetischen im Soziologenjargon, der Schöpfer ehrlich leidender Plastikmenschen, der Choreograf der Permanenzhysterie, der Hirt armer Schweine im Koben der Selbstreflexion – Pollesch ist wieder da. 2001 und 2006 hatte der Autor-Regisseur in Mülheim den Dramatikerpreis gewonnen, 2004 an Frank Castorfs Ruhrfestspielen teilgenommen. Nun hat er in Mülheim den ersten Teil seiner »Ruhrtrilogie« herausgebracht: »Tal der fliegenden Messer«, eine Koproduktion mit dem Ringlokschuppen und Programmbestandteil von »Ruhr.2010«.
An der Ruhr spielt diese Trilogie, deren zweiter Teil im Sommer 2009, deren letzter dann im Kulturhauptstadtjahr selbst folgen soll, an der Ruhr spielt sie buchstäblich: Zwischen der Mülheimer Stadthalle und dem Fluss, hart am Ufer, ist ein sechseckiges, orangefarbenes, lämpchengespicktes, offenes Zelt aufgeschlagen, um das sich rings zwei Zirkuswägelchen, eine Leinwand sowie eine kleine Bühne scharen; der Szene-Bühnenbildner Bert Neumann hat das Arrangement entworfen.Sechs Personen, ein Varieté. Vielleicht aber auch weit mehr Personen und x Varietés, Nachtclubs, Spielcasinos. Generalbesitzer: ein gewisser Cosmo Vitelli, dessen Etablissement in finanziellen Schwierigkeiten steckt, so wie all die andern Etablissements, von denen die rasende Rede ist.
Wie in der Rhetorschule fliegen die Sätze hin und her, fast genauso schnell wechseln die Darsteller die Rollen. Beständig sind lediglich die Spieler Inga Busch, Christine Groß, Nina Kronjäger, Martin Laberenz, Trystan Pütter und Volker Spengler. Die Stimmung ist erregt, die Sätze aber sind poliertes Thesendeutsch. Der Laden ist pleite, man bangt um seine Gage, aber man sagt: »Wie gelangt die Subjektivität jedes beliebigen Menschen, also meine, und nicht nur die der großen Männer, in die Geschichte?« Man müsste zusammenhalten, jetzt! Aber man ruft aus: »Wo haben wir mit ihnen zu tun? Mit den anderen konkreten Wesen?
Diese Frage will eine sentimentale Sorte von Sozialismus immer lösen damit, dass wir nur bessere Menschen werden müssen. Aber wir sind schon gut genug.« So was ist inadäquat, so was ginge schief, würde es nicht mit Herzblut ausgesprochen, mit Verve, Angst, Wut oder Verzweiflung. Deshalb wirkt es komisch. Und öffnet das Ohr für den eigenartigen Reiz dieses Widerspruchs, für diese einzigartige Mischung aus liebenswerten Sprech-Körpern, wirrem Zeug und scharfsinnigen Sätzen von großem Klang. »Ich kann auch nicht garantieren, dass das jetzt gerade inhaltlich ist.« Seltsamerweise sagt Pollesch voller Ernst: »Wir sind überhaupt nicht ironisch an diesem Abend.« Wir sitzen vor der Vorstellung auf zwei Plastikstühlen auf dem Rasen am Ruhrufer, Pollesch raucht ununterbrochen Marlboro und wirkt irgendwie grunderschöpft. Auf jeden Fall nicht wie einer, der auch nur halb so viel Spaß an Pollesch-Inszenierungen hat wie sein Publikum.
»Richtig«, sagt er, »der Turbokapitalismus ist nicht unser Thema diesmal.« Sondern? »Etwas, was anschließt an das, war wir vorher gemacht haben, ›Darwin-win‹: Darwin, durch die Brille von Foucault gesehen.« (Die Produktion ist im April an der Berliner Volksbühne herausgekommen.) Darwin nämlich habe etwas viel Radikaleres geleistet, als uns die Evolution zu lehren, er habe »den Plan aus der Entstehung unserer Gemeinsamkeiten genommen. Wir sind uns zu 100 Prozent fremd. Und daher müssen wir eine andere Grundlage für unsere Kommunikation schaffen.« Gegenseitige Interesselosigkeit könnte das sein. Kälte. Irgendwas Objektives. Auf jeden Fall nicht dieses Wohlwollen, diesen »Sozialismus von der sentimentalen Sorte.
Der reicht gerade mal fünf Minuten, und die Vorrichtung schlägt zu, nach der wir immer den einen Namen nennen sollen. Rainer Werner Fassbinder.«Jetzt sind wir wieder im Stück. In der schrägen Theorieshow »Tal der fliegenden Messer«, die offenbar ernster gemeint ist als sie wirkt. Oder tatsächlich ist. Denn ist nicht jedes Kunstwerk wahrer als sein Autor? Auf jeden Fall ist der Autor unwahrer als das Kollektiv. Und darauf kommt es Pollesch mindestens ebenso an. Wenn wir richtig verstehen, hindern am Entstehen des Kollektivs erstens (wie erläutert) die prädarwinistische Sentimentalität; zweitens Rainer Werner Fassbinder. Immer wieder der!
Auf den lief in einer Rede Alexander Kluges zur Verleihung des deutschen Filmpreises, erzählt die Schauspielerin Groß, sich auf der kleinen Bühne billig räkelnd, auf RWF lief Kluges ganze Argumentation hinaus, obwohl Kluge anfangs doch das Team gelobt hatte: ohne Team kein Film. »Es endet doch wieder in einer Umarmung, in der Rainer Werner Fassbinder die Gattungsbezeichnung ist«. Die Zuschauer lachen an dieser Stelle, Pollesch aber ist es ernst. Er nimmt Kluge den Verrat am Team zugunsten des Einzelkünstlers ernsthaft übel. »Aber Herr Pollesch«, wende ich ein, »Sie machen es doch genauso, Ihre Shows firmieren ja auch unter Ihrem Namen. Warum lassen Sie den dann nicht weg?« Das wäre nur oberflächlich, entgegnet Pollesch. Alle Versuche, »transparent zu machen, wie wir arbeiten, werden beharrlich mit dem Argument ›Kindergarten‹ neutralisiert.
In den Augen eines weißen Heterosexuellen muss das Kollektiv abgewertet werden, weil für ihn eine bürgerliche autonome Künstlerposition das Größe ist, was er sich vorstellen kann.« Aus den Aporien eines postmodernen Autorselbstverständnisses schnell weg in die lebendigen Widersprüche des Theaters. Wie von Castorf zum stilbildenden Inszenierungsmittel erhoben, ersetzt auch hier die Live-Kamera den unmittelbaren Zuschauerblick: Das Spiel findet (meist) im verborgenen Innern des Garderobenwägelchens statt, übertragen wird es auf die Leinwand, die da steht, wo sonst im Theater die Bühne ist. So sind die Zuschauer ganz nah dabei und zugleich weit weg vom Geschehen. Lernziel: Verlust der Unmittelbarkeit.
Da aber kommt das ganze Rat Pack schon aus dem Garderobenwagen gequollen, man muss dringend in die Bar oder ins Spielkasino oder nach Paris. Es geht chaotisch zu, man quetscht sich in einen großen alten BMW mit dem Kennzeichen B-AR 511 und rast (Green-screen macht’s möglich) auf der Stelle davon, Kamerafrau, Tonmann und Souffleuse im Schlepp- tau. Oder stakst auch schon mal einfach hinter der Leinwand her, klettert am Ende jedenfalls immer auf die kleine Bühne links. Die Akteure tragen Varieté-Kostüme unterschiedlicher Art, darüber Bademäntel. Laberenz gibt den Aasigen, Pütter eine Art jungen Belmondo, Spengler mit wüster Säufernase und Käptn-Blaubär-Stimme ist irgendjemand besonderes (er selbst). Die perfekteste Pollesch-Actrice ist wahrscheinlich Inga Busch: gefühlsecht und Attac-spitz. Und alle drei Frauen zeigen erstklassige Beine.
Später steigt die halbe Gesellschaft in den Fluss und steigt als die »abgekühlten Opfer von Erwartungsenttäuschung« wieder heraus. Noch später setzt die ganze Gesellschaft mit dem Boot ans andere Ufer, behütet von zwei Mannen der DLRG und aus der Ferne verfolgt von Kamera und Ton (was für eine Technik!). Drüben schält sich ein Bauspekulationsprojekt, »Ruhrbania«, aus der Kernsanierung (»Stadt als Beute« hieß ein berühmtes Pollesch-Stück), in dessen Nähe wird nun kapitalismuskritisch herumgeballert, was Cosmo (wer immer das gerade ist) einen Volltreffer beschert. Zurück, kreist die erregte Debatte darum, wie man die Verletzung desintegrieren könnte: »Vielleicht kann ich sagen, das ist nicht mein Bauchschuss!«
Kurz vor Mitternacht endet die Aufführung, eine Inszenierung ohne Dramatik, die keine Minute langweilig ist. Die »Ruhrtrilogie«, das ist Pollesch wichtig zu sagen, hat mit dem Ruhrgebiet eigentlich nichts zu tun: »Ich bin nicht jemand, der sich wochenlang an einen Ort begibt, recherchiert, Fragen stellt und das dann zu einem Stück macht. Sondern ich bin mit meinem Thema unterwegs. Ich kann nicht das, woran ich arbeite, abschalten, wenn ich gerade mal in Mülheim bin.« Das gelte auch für die Fortsetzung. Wahrscheinlich. Vielleicht aber auch nicht. Mal sehen. Auf jeden Fall aber werde Teil zwei den Ort wechseln: Der hier am Fluss im Park unter Enten, der sei einfach zu idyllisch. Das »Tal der fliegenden Messer« ist im September 2008 in Berlin zu sehen.