// Welch ein fulminanter Start! Platzt da so ein schmächtiger, schüchterner Lehrbub, gerade mal 14, aus heiterem italienischen Himmel auf die Szene, greift mit schamlos selbstsicherer Autorität in die Tasten und katapultiert sich am Klavier gleichsam über Nacht vom Irgendwer zum Jungstar. Mit vollen Händen stürzt sich dieser Draufgänger in das rauschende C-Dur von Frédéric Chopins erster Etüde aus Opus 10, wuchtet die festlich rauschenden Arpeggien mit dem Elan eines erfahrenen Akkordarbeiters und hat bereits nach einer Minute, 55 Sekunden das Mailänder Piano-Publikum um alle zehn Finger gewickelt. Bravo, bravissimo, rufen die Connaisseure des Metiers und feiern das goldene Handwerk eines Teenagers namens Maurizio Pollini.
An jenem denkwürdigen Abend im Jahr 1956 grübelt, träumt, drängt und stürmt der junge Pollini am Ende durch Chopins komplette Etüden-Kollektion und spielt sie, Kunststück für Kunststück, alle 24 hintereinander. Damit hat er das Alte und das Neue Testament der Klaviertechnik sicher im Griff. An jenem Abend, gerade mal drei Jahre nach Pollinis Debüt, beginnt eine der glänzendsten Musikerkarrieren der Neuzeit.
Schwer, gnadenlos schwer sind diese Chopin-Etüden, die nicht einen Takt lang als glatte, platte Übungsstücke daherkommen, als Leerstoff aus der Sonderschule der Geläufigkeit, sondern bei allem spieltechnischen
Raffinement, das sie erfordern, vor allem Studien der Empfindsamkeit
darstellen, Miniaturen über Herzenswärme, Sehnsüchte, Ritterlichkeit, herrliche Petitessen voll poetischer Magie: zauberhafte Kürzel sie alle eines romantischen Klaviergenies.
16 Jahre später – Pollini hat inzwischen noch einmal systematischen Unterricht genommen, auch frühe Krisen hinter sich und 1970 den Ersten Preis beim Warschauer Chopin-Wettbewerb gewonnen – spielt er die 24 Etüden auf Schallplatte ein und legt damit die bis heute vollkommenste, die schlechthin klassische Referenzaufnahme der beiden Zyklen vor.
Noch sensibler und dramatischer, noch elegischer, eleganter, stolzer und selbstsicherer ertastet er jetzt die vertrackten Sprünge, die kniffligen Terz-Ketten, die verflixten Sexten und all die akrobatischen Oktavkaskaden, kurz: das ganze knochenbrecherische Teufelswerk. Die Klavieromanen flippen aus, Pollini macht Furore.
Inzwischen ist dieser Spielmann Ehrensenator der Wiener Philharmoniker geworden – Anerkennung gewiss auch für den Dirigenten Pollini, der das Traditionsorchester immer mal wieder geleitet hat, mit mehr oder weniger Fortüne. Der Pianist trägt längst das Goldene Ehrenzeichen von Salzburg. Seine Geburtsstadt Mailand hat ihm ihre Goldmedaille verliehen. 1996 wurde Pollini der Internationale Musikpreis der Ernst-von-Siemens-Stiftung zuerkannt, eine Art Nobelpreis der Tonkunst. Die Deutsche Phono-Akademie hat ihn gleich dreimal mit ihrem »Echo« bedacht: für seine Chopin-Nocturnes, für zwei seiner Mozart-Klavierkonzerte und für sein Lebenswerk.
Für sein Lebenswerk wird Pollini nun in diesem Monat noch einmal ausgezeichnet: Am 23. Juni 2008 will Franz Xaver Ohnesorg, der Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, dem Gast aus Italien in der Duisburger Mercatorhalle den »Preis des Klavier-Festivals Ruhr 2008« überreichen, eine »Diapason« genannte Stahlplastik, die der Düsseldorfer Künstler Friedrich Werthmann der Form einer Stimmgabel nachempfunden hat.
Bei allem Respekt vor solchen öffentlichen Ritterschlägen: Wichtiger als offizielle Lobredner waren Pollini stets seine Hörer. Sie fordert er heraus, ihnen schenkt er nichts – außer seiner Kunst, und die ist anstrengend und anspruchsvoll. Fan-Getue findet Pollini lästig und lächerlich. Show und Glamour überlässt er anderen. »Die klassische Musik«, so sein Credo, »besitzt eigenen Wert, einen sehr kostbaren. Man muss sich anstrengen, um begreifen zu können.«
Bequem war Pollini nie. Deshalb häuft er auch nicht einfach jede Menge Mozart oder Chopin zu populistischen Wunschkonzerten auf. Lieber koppelt er späte, sperrige Beethoven-Sonaten mit Werken italienischer Zeitgenossen wie Franco Donati oder Salvatore Sciarrino, oder er paart Bach mit Boulez, Franz Schubert mit Karlheinz Stockhausen, verkettet gar den Renaissance-Meister Josquin Desprez mit dem Romantiker Robert Schumann und diesen mit dem Zwölftöner Arnold Schönberg.
Neue Musik, also Schönberg & Erben, ist für Pollini Pflicht und Kür. Keine Frage, dass er sich als »Pianist unserer Zeit« mit »modernen Kompositionen auseinandersetzen muss, um den Reichtum dieser Musik zu vermitteln«. Und, oh Wunder: Sein Publikum geht mit. Von der Kultfigur Pollini lassen sich selbst die Betonohren des philharmonischen Establishments zeitgenössischen Stoff bieten und – gefallen. Pollini zieht. Seine Auftritte sind Blockbuster. Der Schuber mit 13 CDs, den die Deutsche Gram- mophon 2002 zum 60. Geburtstag ihres Starspielers aufgelegt hat, vereinigt Pollinis diskografisches Gesamtwerk: also jede Menge echte, edle Klassik, klar, aber auch viel Entlegenes, Sprödes, Gegenwärtiges, Disharmonisches und damit Unerwünschtes. Und doch: Diese Box wurde ein Schlager.
In seiner kompromisslos radikalen Programmgestaltung ging Pollini gegen Ende des 20. Jahrhunderts weiter als je zuvor. Unter dem Titel »Progetto Pollini« setzte er sich bei den Salzburger Festspielen mit phantasievoller Autorität über alle gängigen Stile, Rituale und Gepflogenheiten der Wohlklangsbranche hinweg und vereinte Instrumentalisten der verschiedensten Couleur mit Streichquartetten, Chören und Live-Elektronik in einer großen Koalition der Tonkunst. Ein epochales Experiment.
Von einer Praxis hat sich Pollini allerdings inzwischen wieder verabschiedet: von jener Art Polit-Klassik, bei der er nicht nur als Pianist, sondern auch als Pazifist auftrat und sein Klavier-Publikum klassenkämpfe- risch zu bekehren versuchte. Dass dieser Maurizio Pollini, Sohn des reformerisch gesonnenen Architekten Gino Pollini und Freund des kommunistischen Komponisten Luigi Nono, einer linken Weltsicht anhing, war unter Italiens Intellektuellen kein Geheimnis: Schließlich trat er mit Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado regelmäßig in Fabriken und Werkshallen auf, spielte im anti-bürgerlichen Abseits der Réggio nell’ Emilia und wetterte vor Studenten leidenschaftlich gegen den Vietnamkrieg, die Diktatoren Südamerikas und die Macht kapitalistischer Heuschrecken – treffliche Parolen zwischen Bach und Brahms. Als der Pianist Anfang der 70er Jahre vor einem Recital in Mailand einen offenen Brief verlas, um auf US-amerikanische Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen, kam es zum Skandal. Viele Hörer wollten Dur statt Demo.
Mittlerweile ist der Bürgerrechtler Pollini leiser geworden, nicht jedoch politisch weniger aktiviert. Jüngst erst hat er in Mailand ein Sonderkonzert gegeben, mit dem er gegen die Winkelzüge Silvio Berlusconis protestierte und zur Verteidigung der demokratischen Verfassung Italiens aufrief.
Heute, zur reifen Spätlese seiner Karriere, repräsentiert dieser Aristokrat der Musik die höchste Schule der Klavierkunst. Kein Schnick, kein Schnack, wenn er auftritt. Rubato, diese oft sämig verdorbene Gefühligkeit, dosiert er sparsamst. Er macht kein Theater beim Spiel, geschweige denn Theaterdonner und versagt sich die allseits beliebten bunten Abende voll pianistischer Lollipops. Virtuosen Tand rührt er nicht an. Philharmonische Kuschelecken sind ihm suspekt. Pollini spielt niemals kandiertes Klavier.
Manchmal klingt sein Ton vielleicht marmorhaft kühl, seltsam poliert, fast unheimlich geglättet, und der Charme geht ihm auch nicht so leicht von der Hand. Aber immer noch schüttelt dieser Alleskönner selbst die technisch kniffligsten Spielsachen aus dem Frackärmel. Immer noch hat sein Forte stählerne Kraft und sein Pianissimo die feine Magie des Intimen. Bis heute repräsentiert Maurizio Pollini eine helle, klare, im schönsten Sinne mediterrane Pianistik. Er müsste eigentlich Maurizio Apollini heißen. //
23. Juni 2008, Duisburg, Mercatorhalle, 20 Uhr; Info / Ticket: 0180 500 18 12; www.klavierfestival.de