// Es ist zum Heulen. Aber wenigstens lässt Oliver Pietsch nur die Größten und die Schönsten weinen, Marlon Brando, Ingrid Bergman, Michael Caine, Katherine Hepburn, Anthony Hopkins, Faye Dunaway, Harvey Keitel, Björk, Tom Cruise, Julie Delpy, Philip Seymour Hoffman. Man sieht in dem Video ein einziges Schluchzen und Greinen, dazu jammern auf der Tonspur die Geigen herzerweichend, und Bonnie Prince Billy singt so traurig er nur kann. Der Clip zu »Love Comes To Me« ist klassisches Hollywood-Gefühlskino und zugleich die billigste Art, mit geringem künstlerischen Aufwand Glamour in ein Musikvideo zu packen: Regisseur Pietsch hat einfach Heulsequenzen aus alten Filmen montiert.
Der Billy-Clip ist einer von zwölfen, die für den diesjährigen MuVi-Preis der Oberhausener Kurzfilmtage nominiert sind. Nach wie vor der wichtigste unabhängige, der einzig wirklich ernstzunehmende Wettbewerb für die deutsche Popclip-Produktion – zum zehnten Mal wird er nun vergeben. In diesen zehn Jahren scheint sich die Bilderwelt des Musikvideos auf den ersten Blick erstaunlich wenig verändert zu haben. Im Gegensatz zur Musikwelt um die Bilder herum.
Zum Heulen ist die Auswahl des aktuellen MuVi-Preises nicht gleich, zum Heulen aber sind die finanziellen und medialen Bedingungen, unter denen Musikvideos heute entstehen und versendet werden. Nicht alles, aber vieles ist da zunächst eine Frage des Geldes. Das nämlich ist in den letzten Jahren als direkte Folge des ökonomischen Niedergangs der Plattenindustrie von dieser bei ihren Ausgaben für Videodrehs drastisch eingespart worden. Major-Plattenfirmen geben heute durchschnittlich 10.000 bis 15.000 Euro für einen Clip aus, bei Indie-Labels liegen die Budgets in der Regel noch darunter; und den meisten Oberhausener Beiträgen sieht man an, dass sie nicht mal 10.000 gekostet haben können.
»Scream«, das teuerste Musikvideo aller Zeiten, das Mark Romanek gemacht hat für den Song von Michael und Janet Jackson, hat sieben Millionen Dollar gekostet. Aber das war 1995, das waren die goldenen Zeiten des Genres, auch ästhetisch, noch heute wirkt der Sci-Fi-Clip mit seinem digitalen »2001«-Setting futuristisch. Seither galt, dass zunehmend fehlendes Geld eben mit Phantasie und preiswerter Computertechnologie auszugleichen seien. Doch auch die haben Grenzen: Der Musikclip, der einmal das Miniatur-Laboratorium für neue visuelle Tricks, Bildwelten, Schnitttechniken, Erzählweisen war, hat seine ästhetische Führerschaft auch deshalb verloren, weil seine klügsten Köpfe, Leute wie Michael Gondry und Spike Jonze, zum richtigen Film mit richtigen Budgets gingen. Ihre jungen Nachfolger hingegen betrachten unterfinanzierte Musikvideo- drehs meist nicht mehr als Ticket nach Hollywood, irgendwann später, mit etwas Glück. Sie bewerben sich mit ein paar Clips für gut bezahlte Werbejobs, dann sind sie weg.
Parallel zu dieser Entwicklung, und dadurch noch forciert, passierte der Niedergang der Musikfernsehsender. MTV und in Deutschland auch Viva, die ihre Werbeplätze lange eher mit ihrem einstmals bestechenden jugendlichen Zielgruppen-Image verkaufen konnten als mit harten Zuschauerzahlen, erkannten irgendwann, dass man mit Videos keine Quote macht. Die sind nämlich ideale Auslöser für den von Fernsehsendern gefürchteten Umschaltimpuls: Gefällt dem Zuschauer der gerade laufende Clip nicht, zappt er einfach weiter. Also sendeten die Musikkanäle immer weniger Musik. Heute ist das deutsche MTV eine billige Abspielstation für amerikanische High-School-Kuppelshows und anderen bunten Schwachsinn, und Viva eine nur noch schlecht als Musiksender getarnte Dauer-Call-In-Show. Wirklich zum Heulen.
Die Rolle des Fernsehens übernahm bei den Videos das Internet, da muss man auch nicht mehr lange auf den Lieblingsclip warten, man klickt ihn einfach an. Die ausgewiesenen Zugriffszahlen sind mitunter viel höher als früher die Zuschauerzahlen bei den Musiksendern, es gibt also offenbar weiter und womöglich verstärkt den Wunsch des Publikums nach der Visualisierung von Popmusik. Doch mit YouTube änderte sich nicht nur die Art des Zugriffs grundlegend, es änderten sich auch die optischen Standards: Die Bilder werden in der YouTube-Maske in einem vergleichsweise winzigen Ausschnitt gezeigt, und die Videodateien sind meist noch immer so komprimiert, dass man die Clips unmöglich im Vollmodus auf dem ganzen Computermonitor anschauen kann. Man sähe nur grob gepixelten Bildschirmmatsch. Mittlerweile aber prägt das neue mediale Hauptformat YouTube die Musikvideos auch filmisch ganz konkret. Heutige Clips sind spürbar weniger detailliert als frühere, das ist dem kleinen Monitorausschnitt von YouTube und anderen Videoplattformen geschuldet; und ganz entgegen des alten Klischees von der rasend schnell geschnittenen MTV-Ästhetik ist das Tempo der Videos deutlich langsamer geworden, langsamer sogar als das des konventionellen Fernsehens. Für beide Aspekte gilt auch da: Wäre es wie früher, man würde auf YouTube nichts erkennen.
Die diesjährige MuVi-Auswahl spiegelt den ästhetischen Stand der Dinge ziemlich repräsentativ wider. Die Revolutionen sind gemacht, es gibt derzeit auch bei den Grafikprogrammen keine echten technischen Neuerungen, die Tricks sind die alten, die Erzählweisen auch. Compositing, das digitale Zusammenfügen verschiedener Bildelemente, ist international die große Mode, und auch bei deutschen Clips wird Compositing benutzt, beispielsweise bei »Blackbird« (Giraffentoast für Michael Fakesch): Ein als schwarzer Vogel verkleideter Performer tanzt in einem Phantasieraum herum, und am Schluss wird der visuelle Trick verraten, indem alle hineinkopierten Elemente nacheinander verschwinden und man zuletzt nur noch den Tänzer im realen weißen Studio sieht.
Es gibt im Wettbewerb außerdem Typografie-Spielereien (»Dot« von Jörg Petri, erneut für Michael Fakesch), ultralangsame virtuelle Waldansichten (»Terra Incognita« von Lillevän für Rechenzentrum), absurde computergenerierte Kör- perverformungen (»Tween My Lips« von Martin Sulzer für Food For Animals) und eine Art Stop-Motion-Video mit echten Menschen (»Aus meinem Kopf« von Sandeep Mehta für Erdmöbel). Gerade letzteres ist symptomatisch: Der Erdmöbel-Song ist eine handgemachte Coverversion von Kylie Minogues »Can’t Get You Out Of My Head«, und bewusst noch handgemachter wirkt im Vergleich zum berühmten Kylie-Video nun dieser Clip. Weiter geht in der Beziehung nurSimone Gilges, die für »Ich bin ein Stricherjunge« von Stereo Total ebenfalls nominiert ist. Das Video sieht – angesichts des Liedtitels nicht ganz abwegig –gleich wie ein 8mm-Amateurfilmchen von 1978 aus.
Im Gegensatz dazu ist das mit Abstand schönste Musikvideo in der Auswahl zugleich das konventionellste. Eigentlich ein schlichter Kurzfilm, stur linear erzählt bis auf die gespenstisch verblendete Anfangssequenz. Aber es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn »Where In This World« von Markus Wambsganss für The Notwist nicht mindestens den MuVi-Publikumspreis gewänne. Es ist das erste Video zum neuen Notwist-Album, das im Mai nach sechs Jahren Sende- pause der Weilheimer erscheint. Man sieht einen jungen Mann und eine junge Frau, er schweißt an einem Flugzeug aus Metallschrott, den sie für ihn sammelt. Ihr Flugzeug will jedoch nicht abheben, so baut der Junge es schließlich zum Helikopter um, und der entschwebt mit beiden an Bord dann schließlich in den dunklen Himmel. Die deutschen Kinojungstars August Diehl und Sandra Hüller spielen diese traurigen Traumwandler auf beiläufige, zarte Weise, ab Oktober wird man die beiden auch in der »Anonyma«-Verfilmung von Max Färberböck im Kino sehen. Wenn das Musikvideo also noch emotionale Wirkung entfalten will, dann muss es sich die beim Film leihen. Und sei es fürs Heulen. //