/ Wenn man die Beiträge des politischen Themenblocks der 54. Oberhausener Kurzfilmtage der Reihe nach und im Dutzend ansieht, bleibt am Ende der Eindruck eines schier endlosen Protestzuges und militanten oder melancholischen Aufbegehrens: demonstrierende Frauen im Iran 1979; die emotionalisierende Kundgebung der schwarzen »Queen Mother Moore« vor dem Greenhaven Federal Prison 1973 mit Woodstock-Feeling und Bergpredigt-Appeal; streikende Dockarbeiter von Liverpool bis Taiwan; farbige Häftlinge eines entsetzlich überfüllten (»Crowded«) und verdreckten Jugendgefängnisses in Baltimore; dozierende »Black Panther« bei Agnès Varda; randalierende Hausmädchen in einer Slapstick-Posse von Pathé 1906, die in guter französischer Tradition »A bas les patrons!« fordern. Der Slogan »Nieder mit der Herrschaft« leiht einem der kompilierten Kurzfilm-Programme den Titel. Wie überhaupt die Segmente mit insgesamt 80 Beispielen schöne Überschriften tragen wie »Mnemonic Devices« (Gedächtnis-Geräte) oder das geradezu lautmalerische »Banging Doors«. In der Tat, der politische Film hat Türen geöffnet und – hier und da wo es nötig war – eingetreten und aufgesprengt.
In »Solidarity« (Joyce Wieland, 1973) passiert minutenlang weiter nichts, als dass, aufgenommen von einer wackelnden Kamera und begleitet von einer Tonspur mit diffusen Rufen und Gesängen, Füße und abermals Füße vorüberziehen. Denn viele Schritte erreichen ein Ziel. Viele Zweibeiner (verstärkt um die Hundepfoten des besten Menschenfreundes) erge-ben eine Massen-Bewegung. Dieses Powerplay braucht keine Worte. Ein Kommentar erübrigt sich. Das waren noch Zeiten: Die sich radikalisierenden späten 60er und 70er des 20. Jahrhunderts boten dem Aufruhr reichlich Stoff: das üppigste Reservoir für die Themenreihen »Whose History?« sowie »Grenzgänger und Unruhestifter«.
Die rote Fahne weht, ein Foto der Rosa Luxemburg wird vorwärts getragen, die Internationale erschallt: 1. Mai 1972, Berlin Neukölln, Karl-Marx-Platz. Aufmarsch der Genossen. Transparente mit rührend naiven Parolen (der Arbeiter zahlt dem Chef »den Kaffee im Hilton«), die aber wiederum neu-links ziemlich aktuell sind. Die APO macht mobil gegen den DGB. Als Randfigur dabei ist Joseph Beuys (dokumentiert von Jürgen Böttcher in »Ausfegen«). Der soziale Architekt der direkten Demokratie (als Gegensatz zur formalen Demokratie, die seither munter weiterwuchert) plant eine Aktion. Wenn die Mai-Kolonnen das Feld räumen, greift der Kunst-Professor zum Besen mit roten Borsten und entfernt Unrat und Abfall, um ihn anschließend in der Galerie René Block als Müll- halde zu installieren. Die ambivalente Botschaft des konkreten wie erkenntnistheoretischen und pädagogischen Beuys-Solos setzt Zeichen der Solidarität bei gleichzeitiger Distanzierung von einer ideologisch betonierten Diktatur des Proletariats und den »Fachidioten des Protestes«, wie Ralf Dahrendorf einmal gesagt hat.
Frei, antiautoritär, kreativ – wenn das nur alle so verstanden hätten. Das junge Kollektiv von »Meine Akademie« hat es kapiert, wenn es nach Art eines Studentenstreichs in einer satirischen Intervention die Volkswagen-Universitätsbibliothek der TU Berlin in Charlottenburg zum einjährigen Jubiläum mit einem Geschenk beehrt: eulenspiegelnde »Glückwünsche« (2006) für den VW-»Mäzen« und die schleichende Privatisierung von Bildung und Wissen.
Ein Bruder im Geiste des Schamanen vom Niederrhein ist auch der Amerikaner Jack Smith. 1974 hatte ihn die Filmemacherin Birgit Hein für ein Projekt der Kölner Kunsthalle beobachtet. Der von Andy Warhol bewunderte Underground-Artist – Vertreter des New American Cinema – trägt, maskiert als metrosexueller Para- diesvogel avant la lettre, ein Manifest vor. Darin prangert er den Warencharakter der Kunst an und die Künstler als »Gespielen der Reichen«. Den antikommerziellen, antikapitalistischen Impetus braucht der Kunstmarkt. Politische Kunst, ob todernst exekutiert oder als großes Indianerspiel inszeniert wie bei Jack Smith, hat sich verdünnisiert. »Die Kunst wird dünner und dün- ner«, diagnostiziert der Pop-Clown Smith. Die Kraft der Negation zehrt sich auf. Diese Diskrepanz zwischen Gestern und Heute wird wohl auch die Diskussionspodien der Kurzfilmtage beschäftigen.
Nehmen wir eine Film-Performance wie »Sick Serena …« der aktuellen Wiesbadener Follow-Fluxus-Stipendiatin Emily Wardill. Aus Versatzstücken der Kulturgeschichte – Kirchen- fenster-Motive, Ruskin-Verse, Theoreme und Mysterienspiel-Posen – bauscht und bastelt sie eine belanglose Travestie im Stil des Action Paintings. Oder der gefeierte Stephen Prina, der in »Vinyl 2« in einem Saal des Getty Museums Malibu ein Kammerensemble platziert, während die Kamera unendlich langsam einen »Christus mit der Dornenkrone« aus dem 17. Jahrhundert ikonografisch abtastet. Nun ja, man mag da von »immaterieller, ästhetischer Pikturalität« schwatzen. Kann aber sehr viel besser eine der Sottisen nachvollziehen, mit denen Eduard Beaucamp in seinen FAZ-Kunststücken heilige Kühe schlachtet, auf des Kaisers neue Kleider weist und den Jargon der Kunstkritik bespöttelt.
Da will man Zelimir Zilnik für seinen schwarzen »Crni-Film« von 1971 Dank sagen. Der Regisseur schnappt sich sechs Obdachlose aus Novi Sad und verfrachtet sie zu sich nach Hause, um sie – auch ein Happening – bei seiner Familie wohnen zu lassen. Zugleich projiziert er in die Aufnahmen vom WG-Idyll Schriftsätze über bürgerliches Wohlgefühl von »Engagement und Barmherzigkeit« und registriert sublime und rabiatere Methoden der eigenen intellektuellen Selbstgefälligkeit, wenn er zugesteht: »Deshalb ficke ich mein Schuldgefühl«. Das Expe- riment am lebenden sozialen Organismus ist doppeldeutig.
Die vielfach zerrissenen 70er waren wild, wirr, wütend, witzig. Und spontihaft, wie in den Produktionen von US Newsreel, die die Probleme der Epoche erfassten: Vietnam, Black Power, Women’s Lib, Hausbesetzungen, Civil Rights. Zum Beispiel »Garbage«, in dem Hippies aus der Lower East Side anlässlich eines Streiks der Müllarbeiter von New York Abfall vor dem Lincoln Center abladen und dem Establishment vor die Füße werfen. Während die aufmarschierten Cops keinen Spaß verstehen, sind die Street-Performer beim Diskutieren übers richtige revolutionäre Verhalten in ihrem Element.
Auf die Zuspitzung der Realität scheinen die Filme bevorzugt mit Halb- und Unschärfen zu reagieren. Narratives Kino kann man hier kaum erwarten. Im Dienste der Aufklärung und der Veränderung ist anderes gefragt. Form follows function – jenseits des design for living auch im Medium Film. Das politisch motivierte Genre bevorzugt von Benjamin und Bloch vorgebildete »Realfragmente«: Doku, Montage, Collage, Frottage, Manifeste, das subversive und subjektive Experiment mit offenen Formen.
Solche Mischverhältnisse bietet »Emergency needs« (2007), in dem die Rede des ersten afro-amerikanischen Bürgermeisters einer US-Großstadt, Carl B. Stokes, per Splitscreen-Verfahren im Wortlaut von einer Schauspielerin nachsynchronisiert wird. Wir hören Stokes’ Rechtfertigungsrede nach den Rassenunruhen im Juli ’68 in Cleveland – fast ein Zeugnis der Schizophrenie für einen Mann wie den farbigen Mayor, der zwischen den Linien stand.
Misstrauen herrscht allenthalben gegenüber dem schönen Bild, ja überhaupt gegenüber dem Bild, wie der fünfminütige Beitrag von »Klub zwei« zeigt, der »Schwarz auf Weiß« (2003) in grafischen Typos eine komplexe Reflexion und kritische Rezeption einer möglichen oder vielmehr unmöglichen Visualisierung des Holocaust anstellt, die immer auf »just an event« hinauslaufen würde. Geboten sei: »Image is silenced«. Optische Schweigepflicht mag nicht nur für die Shoa als der Katastrophe des 20. Jahrhunderts gelten, sondern ebenso für andere Krisensituationen, Orte, Zeiten.
Dass die Kunst hilfreich und rettend sein kann, zeigt auf beeindruckende Weise Vahid Zara Zades «POW 57187«. Die Zahl bezeichnet die Häftlingsnummer eines irakischen Kriegsgefangenen. In einem iranischen Lager hat er eine Art Museum eingerichtet, bestückt nicht mit Propagandakunst im engeren Sinn. Die Variation von Madame Tussaud’s besteht aus Kunst-figuren, Gipsskulpturen, kleinen und lebensgroßen Arrangements und Dioramen von echten Islamführern wie Saddam oder König Hussein und nachgestalteten Szenen neben Schaugemälden des Ayatollah Khomeini und Front-Kitsch. Ihr Erschaffer muss sich dem jeweiligen Geschmack seiner Auftraggeber anpassen und schmuggelt doch Konterbande ins trostlose Camp hinter Stacheldraht.
Es binden sich »Geschichte und Eigensinn«, um das Buch und unsystematische Kompendium von Oskar Negt und Alexander Kluge zu zitieren. So grandios gescheit und hintergründig wie Kluges filmische Arbeiten sind wenig andere, gleichgültig ob man seinen Beitrag in »Deutschland im Herbst« nimmt oder »Nachrichten von den Staufern«. Wieder gerät die Lehrerin Gabi Teichert (Hannelore Hoger) auf Abwege, verfasst Fußnoten und trägt die Ruinen der Geschichte Stein für Stein ebenso ab wie Legenden und Launen der Macht. Kluges assoziative Technik führt intellektuelle Klarheit und romantisches Gefühl zusammen, bis sich ein Klima wie in Schuberts »Winter- reise« herstellt. Indem der Jurist, Soziologe, Historiker und Opernliebhaber Phänomene untersucht und die Komik des Faktischen findet, gelin- gen ihm Musterbeispiele für eine andere, inoffizielle Geschichtsschreibung. Benutzeroberflächen oszillieren, ohne eindeutig entzifferbar zu sein.
Das Politische existiert unterhalb der Ebene der großen Politik. Das betrifft auch den pädagogisch wertvollen, auf uns längst herzig harmlos wirkenden »Für Frauen« von 1971, in dem vier Supermarkt-Verkäuferinnen in hölzernen Spielszenen entsprechend den Regeln der realistisch-sozialkritischen »Berliner Schule« Selbsthilfe organisieren, gegen die Ungleichheit im Job, gegen den Mann, Pascha und Chef aufbegehren und Marx im Kittel proben. Die »Acht Stunden sind kein Tag«-Dramaturgie wurde zeitgleich von R.W. Fassbinder praktiziert, der im übrigen bewiesen hat, dass man im Allerprivatesten am politischsten sein kann. Es sei an seine Episode aus »Deutschland im Herbst« erinnert. Sie gehört in jedes Filmseminar. //
Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, 1. bis 6. Mai 2008; Tel: 0208 / 825 2652; www.kurzfilmtage.de